
7. Eine erste Gesamtwertung
Ich halte den Roman Tod eines Kritikers auf
eine ganz merkwürdige Weise für mittelmäßig. Wunderbaren Szenen und Sätzen
stehen Niveaulosigkeiten gegenüber, die ich Martin Walser gar nicht zugetraut hätte.
An manchen Stellen gelingt es ihm dermaßen
innovativ zu schreiben, dass ich die Sätze mehrmals las. Ein kleines Beispiel:
"Er ist, wie er es selber fröhlich ausdrückt, mit Gott und der Welt
befreundet und ich gehöre zu seinen Telephonnummern."
[1]
Ich gehöre zu seinen Telephonnummern – diese Formulierung habe ich mir mehrmals auf der Zunge zergehen
lassen. Es gibt viele solcher innovativer, ausdrucksstarker Formulierungen im
Roman, in denen es Walser gelingt, dem Geschehen Tiefe zu verleihen, über das
1000mal Gesagte hinaus zu gehen und eine eigene Sprache zu transportieren.
Ferner sind viele der Reflexionen im Wunsch, ein Verbrecher zu sein ungeheuer
wertvoll für mich gewesen. Auch hier ein Beispiel: "Versuch über Größe.
Zuerst das Geständnis, dass Denken mir nichts bringt. Ich bin auf Erfahrung
angewiesen. Leider. Erfahren geht ja viel langsamer als denken. Denken kann man
schnell. Denken geht leicht. Denken ist keine Kunst. Durch Denken wird man Herr
über Bedingungen, unter denen man sonst litte. All das ist Erfahren nicht."[2]
Niemals hätte ich eine Reflexion über Denken und Erfahrung so auf den Punkt
bringen können. Diese Stellen halte ich für genial. Auch einige Szenen und
Charakterisierungen gefallen mir (z.B. RHH, Mani Mani). Die Kritik an den Medien
ist da schon weniger innovativ geraten. Nur selten, wie z.B. in einer sehr guten
Szene mit Dr. Swoboda und Michael Landolf entlarvt Walser die Medien anhand von
klugen Beispielen. Meistens heißt es: "Gegen pure Wahrheit sind die Medien
eben immun"
[3] oder Das Fernsehen verfälscht
alle und alles. Und damit bin ich bei dem angelangt, was mir an diesem Roman
nicht gefällt. Da wäre zunächst einmal seine Konstruktion. Ich halte es für
nicht gerade glücklich, dass Walser ausgerechnet
hauptsächlich die Machtausübung Reich-Ranickis ihm gegenüber thematisiert.
Durch diese Konstruktion erst besteht die Gefahr der Stilisierung der
Charaktere, der Walser schließlich erlegen ist. Außerdem ist Machtausübung
zunächst nicht einmal per se schlecht. Selbst Verrisse führen, wie Ehrl-König
selbst im Roman einmal bemerkt, zu Auflagensteigerungen. Natürlich tut es weh,
wenn ein eigenes Werk verrissen wird – ganz besonders, wenn es auf diese Art
und Weise geschieht. Aber selbst, wenn Marcel Reich-Ranicki deswegen zu tadeln
ist, so frage ich mich doch, warum nicht das letzte Urteil dem literarischen
Publikum vorbehalten bleiben sollte. Oder anders: Warum fixiert sich die
Branche, warum fixiert sich Walser so sehr auf den Starkritiker Marcel
Reich-Ranicki? Für wen schreibt denn ein Schriftsteller? Für die oder gar nur
für einen Kritiker oder für das literarische Publikum? Geht es dem
Schriftsteller nicht vorrangig darum mit seinen Gedanken, mit dem was er unter
welchen Kriterien auch immer als wichtig erachtet eine bestimmte
Zielgruppe oder eine große Anzahl von Leuten zu erreichen?
Walser lässt Souveränität vermissen. Die Kritiker
und vor allem Reich-Ranicki sind auch deshalb so wichtig geworden, weil sie von
den Schriftstellern für so wichtig genommen wurden. Die schon angesprochene
Ambivalenz der Schriftsteller zu Reich-Ranicki ist da ein interessanter Punkt.
Die schwertscharfe Einteilung in gute und schlechte Bücher wird
von den Schriftstellern nur bejammert, wenn ihr Werk als schlecht
eingestuft wird. Diese Doppelmoral ist nicht besser und nicht schlechter als die
Machtausübung Reich-Ranickis. Dies hätte im Buch viel klarer thematisiert
werden müssen. Der arme Hans Lach wird enttäuscht, obwohl er erwartet, dass
Ehrl-König sein Buch gut nennen wird. Aber er hätte auch enttäuscht
sein müssen, wäre es tatsächlich so gekommen. Eine Generalkritik ohne eine
Gesamtinfragestellung des Systems wirkt eher verlogen, denn angebracht. Wenn
Martin Walser Reich Ranickis Kriterien Bücher zu beurteilen nicht passen, dann
darf diese Meinung nicht davon abhängig sein, ob ihm diese Kriterien vielleicht
auch mal was Gutes bringen. Dann sollte er die Zuschriften und Reaktionen des
literarischen Publikums einfach wichtiger nehmen. Oder aber er hält die Macht
der Medien und der Kritiker für so groß, dass er nicht mehr darauf setzen
kann, eine ungekünstelte Meinung zu erhalten. Dann allerdings – so glaube ich
– unterschätzt er das literarische Publikum.
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[1] Martin Walser: Tod eines Kritikers. S. 13
[2] Martin Walser: Tod eines Kritikers. S. 21
[3] Martin Walser: Tod eines Kritikers. S. 111