6. Der Literaturbetrieb

 

Während der Ermittlungen spricht keiner der weiteren Personen ein Wort des Bedauerns über Ehrl-Königs Tod aus. Es entsteht sehr oft der schon ausgesprochene Eindruck: Der Ermordete hat sein Schicksal durchaus verdient. Am weitesten gehen wohl Julia Pelz-Pilgrim und der Schriftsteller Bert Streiff. So sagt die Verlegergattin zu Michael Landolf: "Nur wenn Hans Lach gestehe, erweise er sich seiner Tat als würdig. Wenn er nicht gesteht, unterwirft er sich der Spießermoral: Weiße Weste, gut davonkommen, heucheln. Wenn er zu seiner Tat steht, leuchtet sie. Macht Geschichte. Entwickelt uns Unterentwickelte." [1] Und Bert Streiffs Worte werden von Michael Landolf folgendermaßen wiedergegeben: "Hans Lach habe es getan, er, Bernt Streiff, habe es immer nur tun wollen, immer nur daran gedacht, Tag und Nacht. Getan! Ja, in Gedanken! Echt Bert Streiff, rumgemurkst bis zum Gehtnichtmehr, und der Lach geht hin, sticht zu, basta. Und er kommt frei. Hunderte werden bezeugen, dass die Gewalt von dem ausging, der dann das Opfer war. Hunder-te! Es gibt Fälle, Autoren, die sich umgebracht haben, die einfach krepiert sind. Hans Lach, der hat's gemacht. Der ist jetzt durch. Damit ist er Spitze. Das nimmt ihm keiner mehr. Er wird eingehen in die Geschichte als Tyrannenmörder." [2]

Was die Darstellung des Literaturbetriebes angeht, so gibt es wenig Überraschendes zu lesen. In der Szene wird gerne getratscht, kaum etwas bleibt geheim und im Großen und Ganzen ist die Literatur nur Aufhänger für die Selbstbeweihräucherung der Szene. Dies wird besonders anschaulich dargestellt an den Partys in der Pilgrim-Villa, in denen nur die Verlegergattin Julia-Pelz-Pilgrim manchmal vom üblichen Verhalten abweicht, welches da heißt: gut aussehen, sehen und gesehen werden und sich an Ehrl-König ranschleimen, um etwas von seinem Wohlwollen zu erhaschen. Dabei bleibt die Machtausübung Ehrl-Königs unberechenbar. Das ist seine stärkste Waffe. Er demonstriert seine Unbestechlichkeit, indem er keine freundschaftlichen Bande aufbaut, und wenn es doch so scheint, so hindert ihn dennoch nichts daran auch die, die sich in Sicherheit wiegen, derbe vor den Kopf zu stoßen. Sei es durch einen Verriss oder sei es durch Diskussionen, in denen er dem Gegenüber jegliche Ahnung von der Sache rundweg abspricht. Die lange Ambivalenz im Verhältnis Hans Lach - André Ehrl-König ist ein Paradebeispiel für die gesamte Branche: "Ehrl-König hat Lach sicher nicht mehr niedergemacht, als er Böllfrischgrasshandke niedergemacht hat. Böll und Frisch haben ihn, jeder für sich und ohne von den anderen zu wissen, Scheißkerl genannt. Böll habe ihm nach der Scheißkerl-Taufe herzlichst die Hand gedrückt. Frisch sei sicher zurückhaltender geblieben. Grass hat ihm Zeichnungen geschenkt. Es haben ihm ja alle etwas geschenkt. Unter anderem sich. Und sei's in der Hoffnung auf das Gegengeschenk. Schließlich war er der Mächtigste, der je in der Literaturbranche Blitze schleuderte." [3]

Eine phantastische Passage allerdings ist Walser gelungen mit der Darstellung des Mentors Rainer Heiner Henkel und seiner Ehefrau. Hier handelt es sich um das Ehepaar Inge und Walter Jens. Als diese beiden Michael Landolf besuchen, um ihn bei seinen Ermittlungen zu unterstützen, werden sie so liebe- und kraftvoll beschrieben, dass sich der Leser dem Buch kaum noch entziehen kann.

Sehr geheimnisvoll und – das gilt es offen zuzugeben – nicht so richtig zugänglich ist mir die Figur des Mani Mani. Hans Lach lernt ihn in der Nervenheilanstalt kennen. Mani Mani scheint so eine Art Gegenentwurf zu Hans Lach zu sein. Er ist lebhaft, redselig und entwirft unheimlich viele Lebensentwürfe. Er beschäftigt sich beständig mit dem Thema Schreiben, aber die 1000 Gedichte, die er schon einmal geschrieben hat, verbrennt er unter einer Brücke. Er züchtet sich eine Illusion nach der anderen, (was nicht nur das Schreiben betrifft,) um dem Grauen der Wirklichkeit zu entgehen. Und zu guter Letzt ermordet er sich unter der Brücke, unter der er seine Gedichte verbrannte. Auch er hat eine Fixierung. Er bildet sich ein, verfolgt zu werden. Doch im Gegensatz zu Hans Lach trifft er eine endgültige Entscheidung. Er begeht, so heißt es in seinem Abschiedsbrief, stellvertretenden Selbstmord.

Er steigt sozusagen aus dem Literaturbetrieb aus, obwohl er noch gar nicht so richtig eingestiegen war. Diese Figur ist sehr reizvoll aufgrund ihrer Unbedingtheit. Sie erscheint zwar schwer psychotisch, nimmt aber nichts in Kauf, lässt nichts mit sich machen und hat den Mut, dem Sich-verfolgt-fühlen etwas entgegenzusetzen, was die Situation beendet. Damit trägt Mani Mani eben nicht zur Festigung der Allmacht Ehrl-Königs bei. Er spielt das Spiel der Abhängigkeit von Ehrl-König letztlich nicht mit. Die Eitelkeiten und Bräuche des Literaturbetriebes widern ihn an und daher entschließt er sich nicht mitzumachen. Das erspart ihm, für ein Schicksal wie Hans Lach oder "Böllgrassfrischhandke" in Betracht zu kommen.

Was die zukünftige Entwicklung des Literaturbetriebes angeht, so findet sich dazu ein kleiner Science-Fiction-Essay am Ende des Buches, geschrieben und vorgelesen von Hans Lach auf Fuerteventura. Er spielt im Jahr 2084. Er sagt eine Ejakulation-Orgasmus-Kultur voraus, bei der die Schriftsteller in (Glas-)Kabinen sitzen und lesen, während die Kritoren (Kritiker) leiden oder jubilieren. Die Schriftsteller wollen um jeden Preis auffallen und onanieren auch schon mal vor laufender Kamera, was die Kritoren beflügelt, es ihnen gleichzutun. Dieser Science-Fiction-Essay ist die konsequente, zu Ende gedachte Weiterentwicklung der Sprechstunde. Er ist zwar einigermaßen abschreckend, aber auch sehr sehr eklig.

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[1] Martin Walser: Tod eines Kritikers. S. 70

[2] Martin Walser: Tod eines Kritikers. S. 80

[3] Martin Walser: Tod eines Kritikers. S. 52