4. Der Spielmacher

 

Zunächst zu der angekündigten, in diesem Falle fast überflüssigen und deshalb kurz gehaltenen Beweisführung. André Ehrl-König hat im Roman eine eigene Fernsehsendung: die Sprechstunde. Das realistische Vorbild ist hier das Literarische Quartett. Ferner weist Ehrl-König exakt dieselben Spracheigentümlichkeiten auf, die auch Marcel Reich-Ranicki aufweist. Es gibt noch viele weitere Anhaltspunkte, aber diese dürften genügen.

André Ehrl-König wird dem Leser als eine Art Spielmacher des Literaturbetriebes vorgestellt. Er ist der Mittelpunkt der gesamten Szene und aus ihr nicht mehr wegzudenken. So weit, so korrekt. Doch die Charakterisierung der literarischen Figur André Ehrl-König ist unheimlich einseitig geraten. Ehrl-König wird beschrieben als eitel, geschwätzig, selbstgefällig, undifferenziert, publicitysüchtig, sexbesessen, arrogant, skrupellos, hinterhältig und unverletzbar. Er existiert nicht, um der deutschen Literatur zu dienen, wie er gern vorgibt, sondern in Wahrheit benutzt er die deutsche Literatur zur Mehrung seines Ruhmes. Dazu ist ihm jedes Mittel recht, besonders seichte Bemerkungen. Ehrl-König ist temperamentvoll, aber kein Intellektueller. Vielmehr ist er ein "inhaltsloses Großtemperament, das auf Stichworte wartet". [1] Die liefert ihm Rainer Heiner Henkel, sein Mentor, der ihn sozusagen erschaffen hat. Ehrl-König ist also auch noch das Geschöpf eines Anderen. Seine Urteile sind denen eines Scharfrichters ähnlich: Bücher sind gut oder schlecht – dazwischen gibt es nichts. Er urteilt auch nicht aufgrund angestrengter Auseinandersetzung mit der Lektüre, sondern anhand von oberflächlichen Kriterien. Seine Urteile sind seicht, extrem subjektiven Kriterien unterworfen und kommerziell vermarktbar, was ihm zum Star in einer Mediengesellschaft wie der Unsrigen geradezu prädestiniert.

Positive Eigenschaften? Fehlanzeige! Zwar hatte Hans Lach einige Wochen vor der ominösen Sprechstunde bei einem Empfang in der Villa Ludwig Pilgrims ein vertrauliches Gespräch mit Ehrl-König. Zwar schrieb Ehrl König Hans Lach Jahr für Jahr französische Widmungen in seine (Ehrl-Königs) Bücher und steckte sie ihm in den Briefkasten – doch auch dies war nichts als Mache, nicht von ehrlichen Gefühlen geleitet.

Neben der Einseitigkeit der Charakterisierung Ehrl-Königs fallen zwei weitere Punkte unangenehm auf. Zum einen wird der Literaturkritiker nur in einer einzigen Szene während der Ausübung seiner Tätigkeit vorgeführt. Diese Szene allerdings, dies muss gewürdigt werden, ist wunderbar gelungen.

Ein herrliches Stück Satire! Die Mittel mit denen Ehrl-König in seiner Show Sprechstunde das neueste Buch Hans Lachs verreißt, haben nichts mit seriöser Literaturkritik zu tun. So ist eines der Kriterien Ehrl-Königs, "daß ein Roman, der mehr als vierhundert Seiten lang sei, ihm, dem Leser André Ehrl-König, zu beweisen habe, warum er mehr als vierhundert Seiten lang sein müsse". [2] Diesen Beweis tritt Lach laut Ehrl-König aber gar nicht an. Außerdem sei die Protagonistin des Buches eine beschränkte Person. Begründungen werden nicht geliefert. Aus dem Buch werden allenfalls Brocken zitiert, um sie leicht verdaulich für das Studio- und Fernsehpublikum zu Zoten zu verarbeiten. Über die Handlung des Romans erfährt man fast nichts. Dafür dient Überraschungsgast Martha, die das Buch zu allem Überfluss gar nicht gelesen hat, als Nickdackel, und steigert so die Wirkung der Ehrl-Königschen Worte. Doch das alles wirkt hohl und den Leser beschleicht das Gefühl, gerade die Schilderung einer drittklassigen Talkshow zu erleben. Seichte Sprüche, als Argumente getarnt, sollen die Inhaltslosigkeit und Belanglosigkeit des Schauspiels überdecken.

Nach dieser Würdigung nun zum zweiten Kritikpunkt: Walser beschäftigt sich teilweise auf plattestem Niveau mit Dingen, die meiner Meinung nach überhaupt nichts mit dem Thema zu tun haben. Drei Zitate mögen als Beispiele dienen:

"Nehmen Sie Ehrl-König und die Frauen. Es hat sich nie um Frauen gehandelt, immer um Mädels. Oder auch um Mädelchen, da hat er immer scharf unterschieden. Am liebsten waren ihm natürlich Mädelchen, aber wenn's keine gab, nahm er auch Mädels. Frauen findet er langweilig. Unzumutbar. Besonders deutsche. Weibliches plus Schicksal, zum Davonlaufen. Aber schicksalslose, ihres Aufblühens noch nicht ganz sichere Mädelchen, dann wisse er, sagte er, wozu er zur Welt gekommen sei. Herr Pilgrim musste ihm jede auftauchende Literaturjungfer sofort melden. Und er fragte nie: Schreibt sie gut, sondern: Ist sie hübsch." [3]

"Lucie B., seit Jahren Ehrl-Königs Lektorin, beklagt sich bei Ludwig. Sie kann nicht mehr. Seit einundzwanzig Jahren zwingt Ehrl-König sie zu Komplimenten. Er lobt jedes Manuskript, das er bringt, und es ist klar, dass sie zustimmen, sein Lob überbieten muß, oder er haßt sie. Damit kann sie leben. Aber jetzt verlangt er, dass sie jedes Mal auch seine früheren Bücher andauernd lobe. Das gehe zu weit. Sie weiß, dass seine Mutter ihn abgelehnt hat, weil er klein und hässlich war. Dafür will er jetzt von jedem andauernd entschädigt werden. Er ist ein Kind geblieben, das eine liebere Mutter sucht, als es hatte. Aber sie weigert sich, diese Mutter zu sein. Ludwig Pilgrim soll helfen." [4]

"Sie habe einmal im Scherz gesagt, sie werde das Geheimnis seiner Schuhe der Presse verraten. Er habe seine Schuhe immer in Antwerpen produzieren lassen, die seien innen so gestaltet, dass er in diesen Schuhen zweieinhalb Zentimeter größer gewesen sei als in Wirklichkeit. Der Antwerpener Schuhmacher arbeitet hauptsächlich für Politiker und für Gangster. Aber inzwischen sei dieses Geheimnis leider schon durch die RHH-Sippe verplaudert worden. Sie habe noch eins in petto gehabt. Seine unbremsbare Ejakulation. Also, er ist die Nullbefriedigung schlechthin. Und zwar immer schon und immer noch – Wenn du das verrätst, habe er nach ihrer Andeutung gesagt, wirst du nicht überleben." [5]

Derlei quälende Stellen gibt es viele im Roman. Aber warum nur? Was hat das alles mit dem Gegenstand zu tun, den Walser behandelt? In solchen Szenen wirkt es für den Leser, als habe Walser im Affekt geschrieben. Sein Angriff ist nicht auf den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki beschränkt. Er geht weit darüber hinaus und erstreckt sich auf den Menschen Marcel Reich-Ranicki. Das muss man Walser vorwerfen. Weniger wäre hier deutlich mehr gewesen. Denn durch Stellen wie die eben zitierten tritt die Kritik am Literaturpapst Reich-Ranicki in den Hintergrund und verliert gewaltig an Wirkung.

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[1] Martin Walser: Tod eines Kritikers. S. 148

[2] Martin Walser: Tod eines Kritikers. S. 38

[3] Martin Walser: Tod eines Kritikers. S. 111f.

[4] Martin Walser: Tod eines Kritikers. S. 71f.

[5] Martin Walser: Tod eines Kritikers. S. 173f.