3. Zur Konstruktion des Romans

 

Walser hat diesen Roman so konstruiert, dass die Geschehnisse der ersten beiden Kapitel sich in der Realität niemals genau so hätten abspielen können. Der Ich-Erzähler Michael Landolf ist nämlich keine real existierende Person, sondern das Alter Ego (und Pseudonym) von Hans Lach. Im dritten und letzten Kapitel des Buches bekennt Hans Lach: "Michael Landolf, ich danke dir dafür, dass du mir Unterschlupf gewährt hast. Und ziehe aus. Scheinbewegungen sind das. Erzähler und Erzählter sind eins. Sowieso und immer. Und wenn der eine sich vermummen muss, um sagen zu können, wie der andere sich schämt, so ist das nichts als das gewöhnliche Ermöglichungstheater, dessen jede menschliche Äußerung bedarf. Glaube ich. Wer auch immer das sei." [1]

Die eigentliche Story wird in den ersten beiden Kapiteln erzählt. Das dritte Kapitel schildert hauptsächlich den fünfmonatigen Aufenthalt von Hans Lach und Julia Pelz-Pilgrim, der Gattin Ludwig Pilgrims, auf Fuerteventura. Nachdem die Beiden zurückgekehrt sind, reist Hans Lach allein nach Klais. In der dortigen Abgeschiedenheit will er sich etwas von der Seele schreiben. Er beginnt mit folgendem Satz: "Da man von mir, was zu schreiben ich mich jetzt veranlasst fühle, nicht erwartet, muss ich wohl mitteilen, warum ich mich einmische in ein Geschehen, dass auch ohne meine Einmischung schon öffentlich genug geworden zu sein scheint." [2] Dies ist der letzte Satz des Romans. Es ist aber gleichzeitig auch der erste Satz des Romans, mit dem Michael Landolf seine Erzählung eröffnet.

Somit kann der Aufbau des Romans folgendermaßen beschrieben werden: Der Schriftsteller Hans Lach schreibt unter dem Pseudonym und aus der Sicht seines Alter Egos Michael Landolf eine Geschichte über Machtausübung im Literaturbetrieb. Dieses Geschichte umfasst die ersten beiden Kapitel des Buches, in denen Michael Landolf als Ermittler und Hans Lach als Mordverdächtiger auftreten. Im dritten Kapitel leidet Hans Lach, der sich inzwischen seines Alter Egos und Pseudonyms Michael Landolf entledigt hat, zunächst unter den Auswirkungen der von Michael Landolf erzählten Geschehnisse bis er, mit maßgeblicher Hilfe von Julia Pelz-Pilgrim, die Kraft findet, sich sein Leiden von der Seele zu schreiben. Allerdings existiert auch im dritten Kapitel keine saubere Trennung zwischen Hans Lach und Michael Landolf. So führt Lach beispielsweise das Projekt Von Seuse zu Nietzsche des Mystikforschers Landolf wie selbstverständlich fort.

Warum hat Walser diesen Roman so konstruiert? Was bringt ihm dieser Aufbau? Um diese Fragen beantworten zu können, muss zuerst das Versteckspiel um die Figuren aufgegeben werden. Denn Walser hat, möge er sich auch noch so sehr dagegen wehren, einen Schlüsselroman vorgelegt. Viele Figuren haben reale Vorbilder und werden auf (meist satirische) Weise porträtiert. In der Figur des André Ehrl-Koenig erkennt der Leser überdeutlich, weil stark überzeichnet, Marcel Reich-Ranicki wieder. Und vieles spricht dafür, dass Martin Walser sich selbst mit der Figur des Hans Lach porträtiert. Die Beweisführung verschiebe ich auf die nächsten beiden Kapitel. Gesetzt den Fall, diese Behauptungen treffen zu, so lautet die nächstliegende Antwort auf die oben gestellten Fragen: Die von Walser gewählte Konstruktion ermöglicht es ihm im Rahmen seines Themas von seinem persönlichen Leiden zu erzählen. Sie ermöglicht es ihm Betrachter und Betrachteter gleichzeitig, ja ein Betroffener zu sein, der mit Objektivitätsanspruch von seinem Fall als Präzedenzfall berichtet. Und zwar, deshalb der Kunstgriff mit Michael Landolf, indem er quasi aus sich selbst heraustritt und sein Leiden betrachten lässt. Das Lehrstück, das Walser gerne aufführen möchte, handelt von der Machtausübung im Literaturbetrieb und von den Konsequenzen dieser Machtausübung für die Betroffenen. Walser stellt, um die Lehre zu transportieren, seinen eigenen Fall ins Schaufenster. Derjenige, der Macht ausübt, ist Marcel Reich-Ranicki. Der von dieser Machtauübung Ge- und Betroffene ist – neben anderen – Martin Walser. Ohne den Kunstgriff mit Michael Landolf wären Walser zwar viele weitere Möglichkeiten geblieben, den Stoff zu transportieren. Ein real existierender Ich-Erzähler von der ersten bis zur letzten Sekunde etwa oder die Einführung eines Freundes als Erzähler. Walser hätte auch von seinem persönlichen Schicksal abstrahieren können. Sein Fall muss ja nicht als Beispiel für die Branche dienen.

Allerdings: Einen Ich-Erzähler von der ersten bis zur letzten Sekunde hätte man Walser nicht abgenommen. Das hätte zu penetrant gewirkt. Ein Freund als Erzähler hätte unauflösbare Distanz zur Figur Hans Lachs bewirkt. Aber ein Freund Hans Lachs, der Hans Lach selbst ist, kann zu jeder Sekunde beides transportieren: Lehrstück und persönliches Schicksal.

Hinweisen möchte ich in diesem Zusammenhang auch noch einmal auf den identischen Anfangs- und Schlusssatz des Romans. Wer das Buch beendet hat, landet wieder beim Anfang. Die Geschichte ist niemals abgeschlossen, die Machtausübung niemals vorbei. Sie wiederholt sich immer und immer wieder mit klar verteilten Rollen. Der Starkritiker hat die Macht auf seiner Seite und gewinnt. Der Schriftsteller ist von der Macht des Starkritikers abhängig und kann aus eigener Kraft nicht gewinnen.

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[1] Martin Walser: Tod eines Kritikers. S. 188. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2002

[2] Martin Walser: Tod eines Kritikers. S. 9