Über das Negieren anderer Deutungen

 

Du schreibst: Überdies stellt man eine aus der Notdurft und Unzulänglichkeit der eigenen Ideen geborene, unverkennbare Neigung fest, die Biographie dort heranzuziehen, wo sich das Werk dem Zugang verschließt. Natürlich darf man deine diesem Satz folgenden Ausführungen, denen ich zustimme, nicht übersehen (Versteifung nur auf die Fakten, spekulative Beihilfe der Psychologie, Herstellung der Einheit von Text und biographischem Kontext; jedoch ganz nebenbei: Warum zählen denn eine Biographie bzw. Tagebücher zu erbärmlichen Fakten?), dennoch möchte ich dich daran erinnern, das auch du die Biographie Kafkas herangezogen hast, um deinen Ansatz zu begründen und deine textimmanente Deutung einzuleiten. (Viele Interpreten vergessen oder übersehen einen biographischen Fakt, der zwar marginal und unwesentlich erscheinen mag, es aber durchaus nicht ist, Hiob, Seite 3, 1. Satz)  Du hast dich also der von dir gescholtenen Anwendungsweise bedient, nämlich dem Heranziehen der Biographie, obwohl du vorher den Eindruck erweckt hast, als sei dies ganz und gar nicht statthaft. (Und wenn du das nicht so gemeint hast, hättest du es deutlicher herausarbeiten sollen, denn es finden sich auf Seite 1 für das Heranziehen der Biographie nur Negativbeispiele, wobei dein Essay beweist, das es sich auch als positiv herausstellen kann, sich zur Begründung seines Ansatzes mit der Biographie des Autors zu beschäftigen, obwohl die wiederum - kleine Spitze - ja nur ein erbärmlicher Fakt ist.)

Dein sehr starkes Negieren anderer Deutungen kann ich auch nicht völlig nachvollziehen. Du schreibst, es sei falsch, Kafka wörtlich zu verstehen und gibst zwei Deutungen an, die auf keinen Fall statthaben können. Du schreibst dann wiederum, diese Auslegungen hätten gewiß ihre Berechtigung und seien nicht völlig von der Hand zu weisen. Die eine Deutung klinge mal an, die andere auch mal, aber letztlich ließen sie sich überall, egal um welche seiner Erzählungen es sich handelt, anführen, und dadurch, daß man diese banalen und abgeschmackten Sentenzen immerfort wiederkäut und abschreibt, werden sie auch nicht wahrer. (Mitte der zweiten Seite)

Das überzeugt mich nicht. Wo ist der Grund für die Irrelevanz der angegebenen Deutungen zu finden? Das sie überall hinein passen, in jede kafkaeske Erzählung, das soll ein Grund sein? Ich dachte immer, das ist ein Grund dafür, das eine Deutung erst mal statt haben darf und diskutiert werden muss! Warum ist eine solche Deutung, beispielsweise die der Kritik an der Willkürherrschaft totalitärer Systeme banal? Ist jedes wörtliche Verstehen falsch und von Beginn an unangebracht? Muss, provokant gefragt, ein Gleichnis da sein, wo du eines vermutest?

Und zu dem Begriff abgeschmackt noch eines: Nehmen wir an, ein Sachverhalt gelte vorläufig als wahr, zumindest als noch nicht falsifiziert, so zum Beispiel die bisher noch nicht falsifizierte Annahme, das der gelbe Ball, den wir an einem glühend heißen Sommertag erblicken, die Sonne ist. Wäre es nicht unglaublich abgeschmackt, wenn ich diesen Sachverhalt gegenüber jedem Kind, das mich fragt, wie dieser Himmelskörper da oben zu benennen ist, wiederholen würde. Wenn mich hundert Kinder fragten und ich würde hundert mal sagen: "Das da oben ist die Sonne", dann wäre diese Sentenz spätestens nach dem zwanzigsten Mal ganz unglaublich abgeschmackt - was aber nichts an der vorläufigen Nicht-Falsifikation des Sachverhalts ändern würde.

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