Verschiedenes

 

Ein weiterer frappierender Schreibfehler, wenn ich denn Recht haben sollte, ist mir auf der 2. Seite auch noch aufgefallen. Du schreibst, nachdem du über diejenigen gegeißelt hast, die sich nicht die Schwierigkeit einer textimmanenten Deutung machen: Spätestens hier scheidet sich dann die Liebe, die jeder für Kafka übrig hat, in gedankenlosen Genuß und den Willen die Herausforderung des Textes anzunehmen. Statt und muss da ohne stehen, so meine ich, denn diejenigen, über die du sprachst, haben ja gerade den Willen nicht, die Herausforderung des Textes anzunehmen. Aber du nimmst sie an und stellst dem Leser nun die Fragen vor, die du dir gestellt hast, nach denen du dein Essay ausgerichtet hast, was mir sehr gut gefallen hat, denn so weiß der Leser, woran er dich messen kann, welche Fragen du dir zu beantworten zur Aufgabe gemacht hast.

Kleine Kritik am Rande: Die letzte Frage, nämlich Was hat es zu bedeuten, das es für den Mann vom Land quasi einen Privateingang zum Gesetz gibt? hast du nur unzureichend beantwortet. In dem Kapitel Freiheit, Entfremdung und Sinnverlust findet sich zwar unten auf Seite 8 einige Sätze, jedoch wird die Frage nach dem Privateingang nicht beantwortet, und auch das Gleichnis Vor dem Gesetz wird nur unzureichend behandelt. (Kritik an Robert und mich: Wir haben uns überhaupt nicht daran gewagt, obwohl es mir, gerade da es am Ende des Romans auftaucht, von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Romans zu sein scheint.)

Die Darstellung der etymologischen Korrespondenz zwischen Hiob und dem Prozeß ist dir bis auf Kleinigkeiten sehr gut gelungen. In der Tat erkenne ich in jeder Zeile Hiobs erster Rede den Prozeß und seine Themen wieder. Jedoch nicht den Anwalt, falls du damit Josef K"s Advokaten gemeint hast. Dieser ist in Hiobs erster Rede weit und breit nicht zu entdecken.

Die Behauptung einer Vermischung von Pantheismus und Atheismus im Prozeß scheint mir valide zu sein, auch weil die Bedrohung der ständig präsenten Organisation im Prozeß teilweise von K. geleugnet wird (Aber auch das muss sie nicht kränken, wenn Sie bedenken, daß mir am Ausgang des Prozesses gar nichts liegt und daß ich über eine Verurteilung nur lachen werde, S.62, Zeile 26-27, es gibt weitere Textstellen, die dies belegen, massenhaft zu finden im Zweiten Kapitel Erste Untersuchung) und man dann den Eindruck hat, das Gericht könne ihm nichts anhaben und er handle in völliger Souveränität, andererseits K"s Ermattung ständig voranschreitet und er resigniert feststellen muss, daß ja alles zum Gericht gehöre (Es gehört ja alles zum Gericht, Seite 158). Zum einen leugnet K. die Situation des öfteren, handelt in einem Hochgefühl, in dem er sich gar zu Spötteleien hinreißen läßt (hier erkenne ich den Atheismus wieder) und zum anderen muss er resignierend die Allgegenwart des Gerichtes feststellen, seine Omnipräsenz (Hinweis auf den Pantheismus). Auch der Mut, sich zu wehren und die Unmöglichkeit, die eigene Unschuld zu beweisen, sind richtig erkannt, die restliche etymologische Korrespondenz des Kapitels Hiob ist über jede Kritik erhaben, wie ich meine.

Nun zum Kapitel Theodizee: Die Klage K"s ist für mich eine Ungereimtheit und nicht ganz nachvollziehbar. Wo findet eigentlich die Jagd statt, auf die mit der Göttin der Jagd angespielt wird.

Die Organisation, von der im Prozeß die Rede ist, bleibt bis zum Schluß nicht greifbar und eher ist es K., der beständig den Gang der Handlung forciert. Ich sehe darin auch einen Widerspruch zu einer von dir aufgestellten zutreffenden Behauptung. Zitat: Es sind - korrespondierend dazu -auch eher Passivität und Gleichgültigkeit, die das Gericht kennzeichen - und nicht Mißgunst (Seite 6, unterer Teil). So ist es. Wie läßt sich das - diese Frage möchte ich hiermit aufwerfen - mit der Jagd vereinbaren, auf die angespielt wird. Eine Deutung hätte ich auch schon parat, bin mir aber ihrer unsicher: Man könnte hier den Begriff Jagd anders deuten als im herkömmlichen Sinn, etwa so wie eine Jagd mit unendlichem Atem des Jägers, welcher deshalb, aufgrund seiner Übermacht, auch nicht schnell und brutal vorgehen muss, oder - um es zu übertragen: Der Sieg der omnipräsenten Organisation ist nur eine Frage der Zeit und deshalb kann sie es sich auch leisten, das K. unbehelligt bleibt, das er frei bleibt - weil alle seine Unterfangen aufgrund seiner prinzipiellen Schuld sinnlos sind und sein werden, und weil er die Beute sein wird - mit hundertprozentiger Sicherheit.

Die Theodizeefrage, die du ins Spiel gebracht hast, ist wahrscheinlich eine der spekulativsten überhaupt, auf keinen Fall endgültig lösbar, da müssen wir schon warten bis zum Tag des Jüngsten Gerichts, was mich nicht hindern soll, meine eigene kleine bescheidene Deutung zum Besten zu geben, die natürlich auch nichts weiter ist als ein fragmentarisch zusammen gezimmerter Glaube, jedoch einen Aufhänger für eine Diskussion durchaus bieten kann: Ich lehne mich an an die von dir bereits gegebene Antwortmöglichkeit (Seite 7, oben) und baue sie dahingehend aus, das ich das Gute und das Böse weiter differenzieren möchte. Ich glaube an eine individuelle Bewerung jedes einzelnen Menschen durch ein nachweltliches Gericht, welches seine Lebensumstände extrem berücksichtigt. Nach diesem Glauben müssen die Taten eines palästinensischen Kindes, welches von seinem radikalen Vater lernte (ich verwahre mich bei diesem Beispiel und auch bei dem folgenden gegen jede eventuelle Verallgemeinerung), das es das Beste sei für die Palästinenser zu sterben durch ein Selbstmordattentat und andere mit in den Tod zu nehmen ganz anders beurteilt werden wie ein 55jähriger Amokläufer, der aufgrund einer privaten Tragödie zur Furie wurde und um sich schoß. Ich weiß, dieses Beispiel ist sehr simpel und schreit deshalb nach Kritik und dennoch glaube ich, das für jeden Menschen nach seinem Tode individuelle Kriterien von gut und böse angelegt werden, denn nur so ist eine gerechte Bewertung eines jeden Individuums möglich. Natürlich habe ich die Frage damit keinesfalls umfassend beantwortet, habe aber, wenn jemand möchte, vielleicht den Anstoß zu einer Diskussion gegeben und einen Ansatz geboten, der dem Glauben, das die Macht Gottes und das Recht Gottes eins sind, gehörig widerstrebt (ohne leugnen zu wollen, das man aus dem Prozeß eine solche Schilderung herauslesen und eine solche Kennzeichnung treffen kann, wie du es getan hast).

Zu dem eher marginalen Apfel-Beispiel bezüglich des Sündenfalls ist mir folgende Korrespondenz eingefallen: Stirbt Gregor Samsa in Die Verwandlung nicht durch einen Apfelwurf? Ich meine, mich so erinnern zu können. Wäre interessant zu untersuchen, inwieweit dort Parallelen vorhanden sind.

Bei Lenis Zitat ist mir ein weiterer Widerspruch aufgefallen, und zwar das im Prozeß niemals die Rede davon ist, daß man durch ein Geständnis, oder besser durch ständige Geständnisse (die Beichte ist ja kein einmaliger Akt) die Absolution erhalten kann. Dann hätte die Analogie zum christlich-orthodoxen Sakrament der Beichte noch besser gepaßt, da dann die Möglichkeit der Errettung und der Loslösung von der eigenen Schuld, die sich glaube ich auch im Alten Testament findet (habe hier keine Bibel und bin alles andere als bibelfest, da müsste mir mal jemand auf die Sprünge helfen) thematisiert worden wäre.

Skeptizismus, der: Standpunkt grundsätzlichen Zweifels: im Extremfall Verneinung der Erkenntnismöglichkeit von Wahrheit, Wirklichkeit und allgemein gültigen Normen. Zu diesem Skeptizismus bleibt mir nur zu sagen, das du ihn bei Kafka treffend identifiziert hast, da letztlich sich wirklich jede Andeutung, das K. zu wahrer Erkenntnis gelangen könne, sich als Schein herausstellt und auch keine der Personen, welche er im Verlaufe des Prozesses trifft, zu wahrer Erkenntnis gelangt ist, die weiterzugeben und entscheidend zu helfen ein leichtes wäre.

Den Gefängniskaplan als Erzähler des Gleichnisses Vor dem Gesetz möchte ich hier jedoch etwas ausnehmen, da bei ihm stärker als bei jeder anderen Person angedeutet wird, das er mehr weiß, als er sagt ("Siehst du denn nicht zwei Schritte weit?" Es war im Zorn geschrien, aber gleichzeitig wie von einem, der jemanden fallen sieht und, weil er selbst erschrocken ist, unvorsichtig, ohne Willen schreit? S.228 oder: Warum sollte ich also etwas von dir wollen. Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entläßt dich, wenn du gehst.")

Nicht verstanden habe ich deine Folgerung zum 30.Geburtstag. Was hat der 30.Geburtstag mit hermetischem Eingeschlossensein zu tun. Ich gebe zu, das ich die erste Hälfte der 9. Seite nicht verstanden habe, könntest du das noch einmal etwas einfacher darstellen?

Deinen letzten Schlüssen stimme ich dann wieder fast uneingeschränkt zu, wobei noch anzufügen wäre, das es ja durchaus Legenden von Freisprüchen gibt, von denen man sich fragen müsste, wie sie zustande gekommen sind, obwohl kein Streit über ihre Notwendigkeit bestehen kann, da auch diese Legenden dem Glauben an eine Loslösung der Schuld Nahrung geben können - und das nicht zu knapp.

Gesamturteil: Obwohl ich mich wiederhole - ein insgesamt gutes Essay deinerseits, welches nun hoffentlich zu einer lebhaften Diskussion beiträgt. Ich glaube, du hast erst mal Maßstäbe gesetzt. Ein Anreiz für Robert, Ricarda, Tanja, Sarah und mich beim nächsten Mal, so denke ich.

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