1. Niklas Luhmann contra Jürgen Habermas -

die Habermas-Luhmann-Kontroverse

 

1971 erschien die Systemtheorie von Niklas Luhmann. Luhmann erhob damit als erster Soziologe der Nachkriegsgeschichte den Anspruch eine gesamtgesellschaftliche Theorie entwickelt zu haben, die sich auf alles und jedes menschliche gesellschaftliche Handeln und jede Gesellschaft anwenden ließe. Also keine Theorie einer Bindestrich-Soziologie, eines vorher fest abgegrenzten Teilbereiches wie Organisations-Soziologie oder Kommunikations-Soziologie, in welcher per Definition bestimmtes gesellschaftliches Handeln (in der Organisations-Soziologie zum Beispiel vorrausschauendes, nicht-affektuelles Handeln) von Einzelindividuen und/oder Gruppen untersucht wurde, um aus diesem Handeln eine für den Teilbereich gültige Theorie abzuleiten. Nein, Luhmann stellte den höchstmöglichen Anspruch, nämlich den die gesamte (Welt-)Gesellschaft und alle in ihr vorkommenden Handlungen von Einzelindividuen und/oder Gruppen erklären zu können.

Selbstverständlich erregte diese Theorie viel Aufsehen, nicht nur in Soziologenkreisen. Ein so hoher und umfassender Anspruch musste einfach zur Polarisierung beitragen. Die Gegner der Systemtheorie versammelten sich hinter Jürgen Habermas, welcher sich mit der Systemtheorie befasste und sie einer umfassenden Kritik unterzog. So kam es unter anderem zu einem Briefwechsel zwischen Habermas und Luhmann sowie etlichen Artikeln in soziologischen Fachzeitschriften. Bekannt geworden ist dieses Duell als Habermas-Luhhmann-Kontroverse. 1981 verfasste Habermas eine Art Gegenstück zu Luhmanns Systemtheorie, die Theorie des kommunikativen Handelns, die nicht zuletzt aus der kritischen Beschäftigung mit der Systemtheorie Luhmanns entstanden war. Habermas erhob jedoch ausdrücklich nicht den Anspruch, eine gesamtgesellschaftliche Theorie entwickelt zu haben.

Ich möchte nun zunächst einige wenige Grundzüge der Systemtheorie von Luhmann wiedergeben: Nach Luhmann besteht die Welt aus Systemen. Wir können uns niemals von allen Systemen gleichzeitig klar abgrenzen oder gar ihre Existenz verdrängen. Wenn ich am Straßenverkehr teilnehme - und sei es auch nur als Fußgänger - so nehme ich am Straßenverkehrssystem teil. Sollte ich dabei verletzt werden, so ist das Rechtssystem für die Klärung der finanziellen Belange der am Unfall Beteiligten zuständig. Sollte sich ein Krankenhausaufenthalt nicht vermeiden lassen, so kommt mir die Rolle des Patienten zu und ich werde vorübergehend Teil des Gesundheitssystems. Wir sind immer Teil mindestens eines Systems und grenzen uns dadurch von anderen Systemen ab. Wenn ich beispielsweise verletzt im Krankenhaus liege und als Patient Teil des Gesundheitssystems bin, kann ich nicht gleichzeitig Teil des Straßenverkehrssystems sein. Allerdings kann ich, indem ich beispielsweise in der Krankenhauskantine etwas essen gehe, Teil eines Subsystemes der Wirtschaft sein, wenn auch nur für vorübergehende Zeit, ohne aus dem Gesundheitssystem und der Rolle als Patient auszuscheiden.

In dem System bzw. in den Systemen in denen ich mich jeweils befinde gelten bestimmte Regeln, von Luhmann Codes genannt. Diese System - Codes sind es, die den Gang der Interaktionen und das Handeln der jeweiligen Systemteile (der Menschen) bestimmen. Diese System - Codes bestimmen auch, welche Handlungen anschlussfähig sind und welche nicht. Nicht-anschlussfähig sind Handlungen, die den System - Codes zuwiderlaufen. Auf diese Handlungen kann nicht so reagiert werden, das es zu einer Zufriedenstellung aller Interaktionspartner kommt. Diese Handlungen führen meist zum Abbruch der Interaktion. Ich kann mich schwerlich in einer Bank nach frischen Brötchen erkundigen, mein Auto vom Bäcker waschen lassen wollen oder von einer Krankenschwester verlangen, den ganzen Tag mit mir Backgammon zu spielen. Solche Handlungen stellen nicht-anschlussfähige Handlungen dar. Der Schalterbeamte wird mich daher freundlichst zum Ausgang begleiten, der Bäcker mir vielleicht ein frisches Brötchen anbieten um im Kopf wieder klar zu werden und die Krankenschwester wird den Kopf schütteln, was man in ihrem Beruf so alles erleben kann. Nach Luhmann gehen nicht-anschlussfähige Handlungen "als Rauschen am System vorbei". Sie werden nicht in ihrer Substanz wahrgenommen, sondern nur als das jeweilige System nicht beeinflussende Hintergrundgeräusche.

Der Schalterbeamte, der Bäcker, die Krankenschwester - sie sind alle Teile eines Systems und haben daher zu funktionieren. Sie sind Funktionsträger und tragen - wie jeweils viele andere Funktionsträger - ihren Teil dazu bei, das das jeweilige System reibungslos funktioniert. Luhmann bestreitet allerdings nicht, das sich die Funktionsträger der Systeme auch eigene kritische Gedanken bezüglich des jeweiligen Systems machen können. Er nennt das das eigene psychische Programm oder besser das psychische Programm Mensch. Jedoch steht dies in den allermeisten Fällen hinter dem Erfüllen des Funktionstägertums zurück, da eine Mißachtung der System - Codes mit Ausgrenzung durch die anderen Systemteilnehmer geächtet wird. Es ist zum Beispiel durchaus möglich, das die Krankenschwester den Gedanken, den ganzen Tag mit mir oder einem anderen Patienten Backgammon zu spielen, sehr symphatisch findet. Doch sie wird ihren Gedanken höchstwahrscheinlich nicht in die Tat umsetzen und stattdessen ihre Funktion als Krankenschwester erfüllen, weil das ansonsten nicht unmittelbar aber sehr bald den Verlust des Arbeitsplatzes zufolge hätte. Daher gilt meist (Zitat Luhmann):"Die Minister regieren, die Soldaten marschieren, die Schreiber protokollieren - ob es Ihnen nun passt oder nicht."

Es ist allerdings nach Luhmann durchaus möglich, System-Codes (und damit das jeweilige System) ganz oder teilweise zu verändern. Systeme sind zwar sehr komplex, aber nicht unflexibel und die System - Codes sind nicht für alle Zeiten starr festgeschrieben. Zu ihrer Veränderung benötigt man allerdings eine ganze Reihe von Funktionsträgern, die eine Veränderung herbeiführen wollen.

Eine wie ich finde sehr treffende Geschichte, die mir vor ein paar Monaten eine Ärztin erzählt hat, soll hier als Beispiel dienen.Während ihrer sechsmonatigen (vorgeschriebenen) Praktikantinenausbildung vor 15 Jahren erhielt sie monatlich 250 DM netto - so wie alle Praktikanten des Krankenhauses, in welchem sie die Ausbildung absolvierte, 40 an der Zahl. Für diesen Lohn mussten die Praktikanten hauptsächlich säuberungstechnische Arbeiten übernehmen, also Spritzen säubern, Erbrochenes wegwischen, Böden blank wienern etc. Ihre Arbeitskleidung (Kittel, Schuhe) mussten sie zudem selbst kaufen und säubern. Aber immerhin bekamen sie in der Kantine gratis Mittagessen. Nach zwei Monaten strich der Krankenhausdirektor den Praktikanten dieses Privileg mit der Begründung, sie seien schließlich nur Angestellte auf Zeit und würden enorme Kosten verursachen. Obwohl alle Praktikanten auf ein gutes Arbeitszeugnis nach 6 Monaten angewiesen waren, kam es nun zum Streik. Die Praktikanten versammelten sich im Ruheraum des obersten Stockwerkes des Krankenhauses und arbeiteten nicht mehr weiter. Der Direktor kam zu Ihnen herauf und erklärte, ohne sich die Forderungen der Gruppe anhören zu wollen, sie hätten kein Streikrecht und sie sollten weiterarbeiten. Daraufhin erklärte die Gruppe einstimmig, man sei gerne bereit sich einsperren zu lassen, da man ja ohne Streikrecht streike. Aber dieses Vorgehen würde an den Forderungen, die man hätte und vortragen wolle, nichts ändern. Drei weitere Tage später gab der Direktor nach und erfüllte die Forderungen der Praktikanten nach gestellter Arbeitskleidung und Wiedereinführung des gratis Mittagessens. Das Krankenhaus befand sich hygienisch in einem bereits sehr unangenehmen Zustand und die Beschwerden der Patienten häuften sich, da schien die Erfüllung der Praktikantenforderung dem Direktor ein geringes Übel, so das ein  entsprechender Passus bezüglich der zwei erhobenen Forderungen in die Arbeitsverträge eingearbeitet wurde.

Luhmann allerdings mochte nicht bewerten, ob eine Irritation des jeweiligen Systems gut oder schlecht sei - auch im Einzelfall wollte er dies nicht tun. Sein  Augenmerk lag auf der Beschreibung und Erklärung von Systemen und damit der (Welt-) Gesellschaft.

 

Jürgen Habermas warf Luhmann daher einen fehlenden moralischen Anspruch vor. Luhmann könne ja wunderbar beschreiben und erklären, wie zum Beispiel Organisierte Wirtschaftskriminalität funktioniere, aber er urteile nicht darüber und ziehe daher aus seinen Beschreibungen und Erklärungen keine moralische Konsequenz. Genau dies sei aber notwendig und erforderlich in einer Demokratie, denn schließlich strebe jede demokratische Gesellschaft nach dem Ideal, möglichst vielen Menschen ein optimales Leben zu ermöglichen. Und was das sei, ein optimales Leben, darum müsse gestritten werden. Wie aber streiten ohne Verwendung der eigenen Urteilskraft? Luhmann mache es sich zu einfach. Würde man beispielsweise über Mädchenhandel sprechen als ausdifferenziertes Subsystem des Systems "Organisierte Kriminalität", so reiche es eben nicht aus, nur zu beschreiben und zu erklären. Eine moralische Ächtung sei hier von Nöten und eine Perspektive, wie man zur Unterbindung solcher Praktiken käme. Genau diese liefere Luhmann aber nicht und daher würde seine von ihm selbst so bezeichnete Vogelperspektive eher einem Elfenbeinturm gleichen.

Weiterhin besteht laut Habermas eine Gesellschaft zwar auch, aber nicht nur aus Systemen. Das, was eine demokratische Gesellschaft zusammenhält, sollten Werte sein. Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit zum Beispiel. Diese Werte gelte es zu erhalten. Dies sei jedoch nur möglich, wenn die Gesellschaft einen ihr eigenen moralischen Wertekodex entwickle und dazu müsse nun einmal geurteilt werden. Doch blinde Funktionsträger können nicht urteilen. Um verkürzt mit Luhmann zu sprechen: Die regieren, die marschieren, die protokollieren - ob es ihnen paßt oder nicht. Besonders gegen den letzten Teil des Satzes wehrt sich Habermas, sieht seinen Inhalt gar als Gefahr für die Demokratie. Denn ein freiheitlicher demokratischer Rechtsstaat könne sich nur entwickeln, wenn es "einen unverzerrten Diskurs unter Gleichen gebe". Nicht kraft des eigenen Amtes, sondern kraft des besseren Argumentes, gleich von wem es kommt, sollten Entscheidungen getroffen werden.

Dies solle so sein, und man müsse die Entwicklung dahin befördern, das es so werde.

Doch dieser Beförderung der Entwicklung stehe die Systemtheorie Luhmanns eindeutig im Wege, da sie den Menschen zu einem fast blinden Funktionsträger degradiere und ihm jegliche moralische Urteilskraft abspreche.

Zu all diesen Punkten muss man wissen, das Luhmann sich zeitlebens gegen das Moralisieren wendete und sagte: "Die Systemtheorie erhebt nicht den Anspruch, moralische Maßstäbe zu setzen. Sie will beschreiben und erklären. Und in diesem Sinne ist sie umfassend. Somit warf also Habermas Luhmann vor, bei ihm fehle genau der moralische Anspruch, den Luhmann vehement als "nicht zur Systemtheorie gehörig" ablehnte.

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