
Systemtheorie und das Problem des wörtlichen Verstehens
Dann muß ich dir aber auch ein Geständnis machen: ich finde eine Deutung des Romans, die sich auf die Systemtheorie stützt, außerordentlich interessant. Das möchte ich betonen, damit es nicht in der ganzen Kontroverse und Kritik, um die ich mich bemühe, untergeht und der Eindruck entstehen könnte, daß ich deine gesamte Deutung geringschätzen würde, denn das ist nicht der Fall. Ich bin eben der Überzeugung, daß eine Diskussion erst dann möglich wird, wenn Meinungen und Urteile problematisiert werden. Darum konzentriere ich mich darauf. Ich besuche im Augenblick ein Tutorium, das sich sowohl an Germanisten, als auch an Philosophiestudenten wendet, in dem es genau darum geht: die Anwendung Luhmannscher Modelle auf die Literatur und die Heranziehung der Systemtheorie zur Textinterpretation. Es scheint so, als sei ein derartiger Rückgriff auf soziologische bzw. philosophische Konzepte in der Literaturwissenschaft gerade (oder gerade wieder) en vogue. Für mich ist es natürlich ein unbetretenes Land, da ich mit der germanistischen Wissenschaft nichts am Hut habe, aber die Systemtheorie kann sich und ihren ungewöhnlichen Geltungsanspruch auf diesem Gebiet beweisen, und schließlich ist diese Liaison ja bereits in ihr angelegt: man denke nur an die "Selbstreferenz" und die "Autopoiesis", die (in diesem Zusammenhang) unweigerlich an den "hermeneutischen Zirkel" erinnern. Ausgehend von diesem Interesse, über das ich verfüge, erschließt sich dann mein hartes Urteil, das ich in Bezug auf deine Deutung vertreten möchte: die systemtheoretische Deutung ist dir mißlungen. Du hast es nicht verstanden, Luhmann konsequent auf den Roman anzuwenden und deine Bewertung erst einmal zurückzustellen, du hast es nicht verstanden zwischen beidem zu trennen. So zeigen sich große Diskrepanzen zwischen dem 1. und dem 3. Abschnitt deines Essays: selbst die Aspekte der Luhmannschen Theorie, die dir, wie der 1. Abschnitt zeigt, vertraut sind, werden im letzten entscheidenden Abschnitt schlichtweg vernachlässigt, was aus meiner Perspektive sehr bedauerlich ist. Allein die elementare Unterscheidung von System und Umwelt wird in Bezug auf den "Proceß" unterschlagen. Ich frage dich: Warum? Vielleicht hättest du dich vorher entscheiden sollen: entweder Luhmann oder Habermas, entweder Theorie oder Bewertung, aber der Mischmasch aus beidem ist nicht nur anstrengend für denjenigen, der es zu lesen bekommt, sondern wirkt auch ziemlich stümperhaft. Dadurch unterlaufen dir dann auch dermaßen katastrophale logische Fehler, wie der, auf den ich bereits oben hingewiesen habe (siehe das Beispiel, das dein Mißverstehen der Systemtheorie veranschaulichen soll). Ein anderes Beispiel: "Was den Aspekt angeht, daß das System sich weitestgehend selbst steuert, so muß natürlich zugegeben werden, daß das System nicht völlig selbstreferentiell sein kann, da es noch menschliche Funktionsträger benötigt, um sich selbst seine Macht zu sichern." Solche Sätze machen mich sprachlos – und das ist schlimm. So scheint mir deine Deutung letztlich – anstatt originell zu sein – mehr mit abgenutzten marxistischen Kafkainterpretationen gemein zu haben, die in verblüffend ähnlicher Weise argumentieren und denen ich vorwerfe (also auch dir), daß sie einen großen Fehler begehen, indem sie Kafka viel zu wörtlich nehmen (siehe "Was hat es zu bedeuten?" in: "Theodizee und Skeptizismus"). Bei dir kommt dann noch hinzu, daß du – ausgehend von einer ähnlichen ideologischen Position – Luhmann viel zu wörtlich verstehst, worauf schließlich auch ein wesentlicher Teil deiner Bewertung seiner Theorie fußt, da du nicht zwischen wissenschaftlichen Definitionen und deiner Alltagssprache differenzierst, so auch bei dem Begriff "Funktionsträger", den du nicht im Sinne von Luhmann, sondern alltagssprachlich deutest und mit eindeutig negativen Konnotationen verbindest. Dabei leitet sich hier der Teilbegriff "Funktion" wohl eher von einem mathematisch-strukturalistischem Gebrauch ab (Mathematik – schon wieder negative Konnotationen!), den Luhmann für die Soziologie fruchtbar machen wollte, wie er es bei dem Begriff "Autopoiesis" getan hat, den er sich bei Humberto Maturana entliehen hat, d. h. aus der Terminologie der Biologie.
Daß du den Roman ausschließlich wörtlich verstehst, ist natürlich unhaltbar, z. B. angesichts solcher Aussagen: "Es wird zwar ständig von einem Prozeß gesprochen, auch kommen Advokaten, Gerichtsdiener, Untersuchungsrichter etc. im Roman vor, jedoch hat das alles meiner Meinung nach nichts mit dem Rechtssystem zu tun, da elementare Grundprinzipien des Rechtssystems nicht beachtet werden." Okay, das gebe ich dir zu – in meinem Beitrag hänge ich dem selben Gedankengang nach. Allerdings habe ich das Gefühl, obwohl du davon auszugehen scheinst, daß es nichts mit dem Rechtssystem zu tun hat, daß du es einer heftigen Kritik und Bewertung unterziehst, als wäre es dennoch ein solches und zwar ein reaktionäres, despotisches und totalitäres Rechtssystem. Zudem sollte man, wenn man behauptet, was es nicht ist, auch angeben oder zumindest eine Vermutung äußern, was es denn eigentlich ist. Legitimerweise wirst du jetzt auf den Satz verweisen, der dem, den ich gerade zitiert habe, unmittelbar vorangeht: "Wenn ich am Anfang dieses Absatzes von Systemen gesprochen habe, so meine ich, daß das im Roman beschriebene System stellvertretend für die Herrschaft aller Systeme zu sehen ist, schon alleine deshalb, weil es namenlos bleibt und nicht eindeutig identifizierbar ist." Ich könnte den Satz ja als Antwort nehmen und zufrieden sein, wenn du dich dadurch nicht wieder in einen krassen Widerspruch verwickelt hättest: einerseits soll das "Gericht" (wieso bleibt es namenlos?) alle Systeme, andererseits aber nicht das Rechtssystem repräsentieren, sprich: eben nicht alle Systeme. Das steht so eng beieinander, daß es den Leser direkt anspringt. Von was für einem System ist dann also im Roman tatsächlich die Rede, wenn nicht von einem Rechtssystem? Worauf verweist die Metapher? Und was heißt hier alle Systeme? Es ist doch wohl nicht stellvertretend für alle Systeme, für alle anorganischen, lebendigen, psychischen und sozialen Systeme, zwischen denen Luhmann differenziert? Und wie läßt es sich vereinbaren, daß, wenn es sich bei dem "Gericht" nicht um das Rechtssystem handelt, der Advokat trotzdem als Advokat verstanden wird? "Dennoch erfüllt der Advokat die ihm im System zugedachte Funktion als Advokat." Das bleibt ungereimt. Ich würde es bestreiten wollen: er nennt sich vielleicht Advokat, aber er entspricht keinem Advokaten nach unserem gebräuchlichen Verständnis und mit Sicherheit erfüllt er nicht die Funktion des "Verteidigers", wie es in einem Rechtssystem der Fall sein würde.
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