Soziologische Probleme

 

Ich möchte aber nicht nur Kontradiktionen identifizieren, sondern mich auch auf die Idee der systemtheoretischen Deutung einlassen und eine Schwierigkeit der Übertragung, die sich mir aufdrängt, aber die du vollkommen übersehen hast, näher erläutern. Interpretieren wir also das "Gericht" als System. Aber wie geht es an, daß in einem gesellschaftlichen bzw. staatlichen System zwei Rechtssysteme zugleich und unabhängig voneinander existieren: ein rechtsstaatliches und ein willkürliches? Wie läßt sich das mit der Systemtheorie vereinbaren? Wie kann das unsere Wirklichkeit repräsentieren, sprich: stellvertretend für alle Systeme sein?

 

a.)     Wovon sprachen sie? Welcher Behörde gehörten sie an? K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte ihn in seiner Wohnung zu überfallen? (Franz Kafka: Der Proceß. S. 12. Fischer-TB)

 

b.)     "Der Staatsanwalt Hasterer ist mein guter Freund", sagte er, "kann ich mit ihm telephonieren?" "Gewiß", sagte der Aufseher, "aber ich weiß nicht, welchen Sinn das haben sollte, es müßte denn sein, daß sie irgendeine private Angelegenheit mit ihm zu besprechen haben." "Welchen Sinn?", rief K. mehr bestürzt, als geärgert. "Wer sind Sie denn? Sie wollen einen Sinn und führen das Sinnloseste auf was es gibt? [...] Welchen Sinn es hätte, an einen Staatsanwalt zu telephonieren, wenn ich angeblich verhaftet bin? [...]" (Franz Kafka: Der Proceß. S. 21)

 

c.)     [In den Gerichtskanzleien auf dem Dachboden:] "[...] und da unser Gerichtswesen in der Bevölkerung nicht sehr bekannt ist, werden viele Auskünfte verlangt, [...]"   (Franz Kafka: Der Proceß. S. 82)

 

d.)     "Vor allem, Onkel", sagte K., "handelt es sich gar nicht um einen Proceß vor dem gewöhnlichen Gericht." "Das ist schlimm", sagte der Onkel. "Wie?", sagte K. und sah den Onkel an. (Franz Kafka: Der Proceß. S. 100)

 

e.)     "Ich wußte nicht", sagte er, "daß man in einer solchen Sache auch einen Advokaten zuziehn könne." "Aber natürlich", sagte der Onkel, "das ist ja selbstverständlich. Warum denn nicht? [...]" (Franz Kafka: Der Proceß. S. 102f.)

 

f.)       "Sie verkehren in diesen Gerichtskreisen", fragte K. "Ja", sagte der Advokat. "Du fragst wie ein Kind", sagte der Onkel. "Mit wem sollte ich denn verkehren, wenn nicht mit Leuten meines Faches?" fügte der Advokat hinzu. Es klang so unwiderleglich, daß K. gar nicht antwortete. "Sie arbeiten doch bei dem Gericht im Justizpalast, und nicht bei dem auf dem Dachboden", hatte er sagen wollen, konnte sich aber nicht überwinden, es wirklich zu sagen. (Franz Kafka: Der Proceß. S. 108)

 

g.)     Sie kamen durch einige ansteigende Gassen, in denen hie und da Polizisten standen und giengen, bald in der Ferne, bald in nächster Nähe. Einer mit buschigem Schnurrbart, die Hand am Griff des Säbels trat wie mit Absicht nahe an die nicht ganz unverdächtige Gruppe. Die Herren stockten, der Polizeimann schien schon den Mund zu öffnen, da zog K. mit Macht die Herren vorwärts. (Franz Kafka: Der Proceß. S. 239)

 

Diese Beispiele sollen veranschaulichen, was mir wie ein (weiteres) zentrales Paradox erscheint, das der Roman in surrealistischer Manier erschafft. Ein Paradox, das, wenn man sich mit einem soziologischen Erklärungsanspruch dem Buch nähert, vielleicht als erstes in den Blickpunkt rücken sollte? Ein anderes Kuriosum, das den Soziologen verwundern muß, ist die Art und Weise, wie im "Proceß" die Macht thematisiert wird: da gibt es Angeklagte und Diener des Gerichtes, da gibt es Wissende (der Gefängniskaplan) und Unbeteiligte, aber nirgends ist jemand zu identifizieren, der die eigentliche Macht hat. In jedem Staat (und ich spreche einmal bewußt nicht von Systemen, um alles Diffuse zu vermeiden) – und dabei spielt es keine Rolle, ob es nun ein Rechtsstaat oder eine Willkürherrschaft ist – sind die Köpfe und Institutionen, die Macht innehaben und ausüben identifizierbar. Im Nationalsozialismus, um das als Beispiel heranzuziehen, kannte man sowohl die Köpfe (Hitler, Goebbels, Himmler, Göring), als auch die Institutionen (NSDAP), als auch die exekutiven Gewalten (Gestapo, SS, Wehrmacht etc.). Ein derartiges Wissen über Machtstrukturen, -hierarchien und -prozesse ist im "Proceß" grundsätzlich nicht möglich. Warum? Trotzdem ist Kafka in Hinblick auf den Nationalsozialismus ein Visionär: das Reifen der Macht durch ein Vakuum aus ängstlichem Schweigen und autoritätshöriger Duldung ist bei ihm vorweggenommen. So betrachtet behandelt "Der Proceß" eine Schuld, wie sie vorher in der Geschichte nicht möglich war, da die Mehrheit der Menschen weder die Freiheit, noch das Wissen hatten, wider das sie hätten handeln können, eine Schuld, die erst durch die bürgerlichen Revolutionen möglich geworden war: die Schuld der schweigenden Mehrheit, die kollektive Schuld der Unterlassung. In diesem Sinn besteht K.’s größte Schuld darin, daß er die rechtsstaatliche Ordnung für selbstverständlich erachtet hat, um eines morgens aufzuwachen und feststellen, daß das ein großer Irrtum war: plötzlich ist sein kleines und unbedeutendes bürgerliches Leben durch eine Macht bedroht, die er zwar nicht gewollt, aber auch nicht verhindert hat. Aus einer solchen Perspektive betrachtet – auch wenn sie in deinem Essay nicht explizit genannt wird – stimme ich deiner Kritik und Wertung zu und möchte sie würdigen. Kafkas Roman kann tatsächlich als "düstere Zukunftsvision" angesehen werden, die sich erfüllt hat und die uns weiterhin mahnen muß. Dennoch: das Paradox vom Rechtssystem im Rechtssystem und das Kuriosum von der entpersonalisierten und entinstitutionalisierten Macht zeigen deutlich, was ich mit schamloser Reduktion meine und dabei habe ich schon deinen spezifischen Standpunkt berücksichtigt.

 

Noch eine Kleinigkeit zum Schluß, die ich erwähnenswert und interessant finde, gerade aus der Perspektive der Sozialwissenschaft: K. "[...] will nur hinter die gesamten System-Codes kommen, um zu verstehen, nach welchen Regeln das Spiel gespielt wird, welches ihm zum Spielball gemacht hat." Das nenne ich eine interessante Betrachtungsweise! Wir gehen also davon aus, daß K. an einem Spiel teilnimmt, dessen Regeln er nicht kennt. Frage: Warum kennt er weder das Spiel, noch die Spielregeln? Frage: Wer zwingt ihn an diesem Spiel teilzunehmen? Frage: Wie kann er an einem Spiel teilnehmen, dessen Regeln er nicht kennt, d. h. wie kann er spielen, ohne Regeln zu haben, an denen er seine Handlungen ausrichten kann? Frage: Warum schafft er es nicht, die Regeln während des Spieles zu lernen und seine Strategien zu optimieren? Frage: Gegen wen spielt er? Frage: Kann es sich überhaupt um ein Spiel handeln, wenn K. keine Chance hat zu gewinnen? u.s.w. Wie man sieht, erlaubt es allein diese einfache, modellhafte Betrachtungsweise, sowohl bereits vertraute, als auch neue und interessante Fragen aufzuwerfen.

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