Textimmanente Ungereimtheiten

 

Beim Lesen des dritten Abschnittes deiner Deutung sind mir einige Punkte aufgefallen, die ich mit meiner Lesart des Romans nicht vereinbaren kann:

 

1.) "Doch eben so wenig kann Ihnen nachgesagt werden, daß sie K. aus irgendeinem Grunde weiterhelfen würden, [...], sei es, [...] weil sie uninteressiert sind an K.’s Angelegenheit (Fräulein Bürstner)."

Dagegen lese ich im Text: "Sie haben nicht viel Erfahrung in Gerichtssachen." "Nein das habe ich nicht", sagte Fräulein Bürstner, "und habe es auch schon oft bedauert, denn ich möchte alles wissen und gerade Gerichtssachen interessieren mich ungemein. Das Gericht hat eine eigentümliche Anziehungskraft, nicht? Aber ich werde in dieser Richtung meine Kenntnisse sicher vervollständigen, denn ich trete nächsten Monat als Kanzleikraft in ein Advokatenbureau ein." "Das ist sehr gut", sagte K., "Sie werden mir dann in meinem Proceß ein wenig helfen können." "Das könnte sein", sagte Fräulein Bürstner, "warum denn nicht? Ich verwende gern meine Kenntnisse." (Franz Kafka: Der Proceß. S. 35. Fischer-TB)

Das steht doch eindeutig im Gegensatz zu deiner Aussage. Natürlich steckt selbst in dieser kurzen Passage viel Zweideutigkeit, und es ist gut möglich, daß Frau Bürstner, was sie sagt, nicht wirklich meint. Das müßte aber anhand des Textes begründet werden.

 

 

2.) "Auf die Idee einer mit anderen Angeklagten gemeinsam durchgeführten System-irritation kommt er gar nicht erst, da er viel zu sehr mit seiner eigenen Sache, seinem eigenen Schicksal beschäftigt ist."

Dagegen lese ich im Text: "Im allgemeinen verkehren sie [die Angeklagten] nicht miteinander", sagte der Kaufmann, "das wäre nicht möglich, es sind ja so viele. Es gibt auch wenig gemeinsame Interessen. Wenn manchmal in einer Gruppe der Glaube an ein gemeinsames Interesse auftaucht, so erweist er sich bald als ein Irrtum. Gemeinsam läßt sich gegen das Gericht nichts durchsetzen. [...] Es gibt also keine Gemeinsamkeit, man kommt zwar hie und da in den Wartezimmern zusammen, aber dort wird wenig besprochen." (Franz Kafka: Der Proceß. S. 184f. Fischer-TB)

Es wird also auch dieser Ausweg von Kafka berücksichtigt und – wie alle anderen – negiert, so daß also auch in dieser Hinsicht K. seine Hoffnungen, dem Gericht zu entkommen, begraben kann. Die wichtigsten Bedingungen für einen solchen Ausweg, die du selbst indirekt genannt hast, sind in diesem Falle nicht gegeben: a.) ein gemeinsames Interesse an einer Systemirritation bzw. eine genügend große Gruppe, die das selbe Interesse hegt und b.) das Vorhandensein von Machtmitteln, um (wie in deinem Krankenhausbeispiel z. B. durch Streik) seine Forderungen durchzusetzen.

 

3.) "Der Advokat [...] erscheint bei seiner Einführung als vielleicht entscheidende Hilfe, doch entpuppt er sich, obwohl er einer der großen Advokaten sein soll, als Person, die K. in seinen Bemühungen keinen Millimeter voranbringt."

Dagegen lese ich im Text: "Er [der Advokat] nennt dann immer die Advokaten seines Kreises zur Unterscheidung  die ‚großen Advokaten’. [...] Dieser Advokat und seine Kollegen sind jedoch nur die kleinen Advokaten, die großen Advokaten aber, von denen ich nur gehört und die ich nie gesehn habe, stehen im Rang unvergleichlich höher über den kleinen Advokaten, als diese über den verachteten Winkeladvokaten." (Franz Kafka: Der Proceß. S. 188)

Hier führen wollen die verschiedenen Ebenen, Legenden, Behauptungen, Widerlegungen und Verdrehungen zur Verwirrung, wer sich groß nennen darf und wer nicht.

 

4.) "Die Menschen sind als Systemteile fast allesamt Diener des Systems oder aber Angeklagte des Systems."

Diese Unterscheidung trage ich nicht mit, die Betonung scheint mir hier auf "fast" zu liegen, denn was ist mit dem Fräulein Bürstner, der Frau Grubach, dem Staatsanwalt Hasterer, dem Direktor und seinem Stellvertreter? Auch Titorelli mag ich nicht in dieser Weise zuordnen wollen, obwohl er für das Gericht arbeitet: er macht nicht die untergebene und demütige Figur eines Dieners des Systems. Gleiches gilt für den Gefängniskaplan, der im Dom-Kapitel auftaucht. Die Anzahl der Personen, die nicht auf diese Weise zuzuordnen sind, spricht gegen deine Behauptung, die du an späterer Stelle selbst weiter restringierst: "Natürlich tauchen im Roman auch Personen auf, die nicht in direkter Verbindung zum Gericht (zum System) stehen und denen daher reines Funktionsträgertum nicht nachgesagt werden kann."  Angemessener wäre wohl demnach eine dreifache Einteilung der Personen.

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