
Über Moral und Werte
Aber kommen wir jetzt zu den eigentlichen Inhalten deines Essays, den Inhalten, die sich auf Kafka beziehen. In diesem Zusammenhang möchte ich dir eine Verständnisfrage stellen – eine einzige wohlgemerkt, allerdings eine, die gleich einen ganzen Komplex mit einschließt: Was verstehst du unter einem "gemeinsamen moralischen Wertehorizont"? Schon allein der Begriff "Wertehorizont" ist äußerst schwammig, metaphorisch, vieldeutig und nichtssagend – mit anderen Worten: er kann alles oder nichts bedeuten. Aber ich kann weder über Alles, noch über Nichts reden, daher wäre es hilfreich, wenn du den Begriff spezifizieren würdest. Dennoch habe ich eine Vermutung: mich erinnert dieser Begriff an eine Diskussion, die wir geführt haben und deren Ergebnis darauf hinauslief, daß es einen sogenannten Wertekonsens, eine Einigung auf einen einzigen Wert, wenn die Gruppe nur entsprechend groß ist, nicht geben kann, und, wenn wir davon ausgehen, daß du in deinem Essay von Systemen und von großen und komplexen Konglomeraten wie Gesellschaften zu reden pflegst, erscheint die Chance, daß ein solches Vorhaben einen Erfolg zeitigt, nicht nur schlichtweg utopisch, sondern prinzipiell unmöglich zu sein. (Etwa in der selben Art und Weise unmöglich wie eine absolute Selbstrechtfertigung, die zu verfassen, Josef K. in Erwägung zieht.) Jeder Mensch hat zwar eine mehr oder weniger ausgeprägte Vorstellung vom Guten in seiner ganzen Abstraktheit, aber konkret und inhaltlich kann es keine Kongruenz geben. Das berücksichtigt, ergibt sich daraus allerdings auch einige Verwirrung: hier wird der Wertekonsens geleugnet, dort wird er als implizit wünschenswert propagiert. Wie paßt das zusammen? Wie läßt sich das vereinbaren? Oder ist es letztendlich eine "zynische Logik", die sich dahinter verbirgt – quasi ganz im Sinne von "Placet experiri"? Man kommt in einer Diskussion zu dem Ergebnis Nicht-A und in einer anderen Diskussion will man davon nichts mehr wissen und behauptet, weil es bequem und billig ist, um sein Urteil und eine Kritik zu unterstützen, A. Was werden hier für Gedankenspiele getrieben? Wozu diese Aufweichung des "Wertekonsenses, der prinzipiell unmöglich ist" hin zu einem "gemeinsamen moralischen Wertehorizont"? Es ist eine andere Diskussion, aber ich möchte noch einen Schritt weitergehen: Angenommen, es gibt weder diesen "Wertekonsens", noch jenen "gemeinsamen moralischen Wertehorizont", was immer er auch zu bedeuten hat, wie läßt sich dann der Sinn eines "Diskurses über Sinn, Zweck, Mittel und Ziele der Gesellschaft" rechtfertigen?
Vielleicht nicht ganz unpassend werde ich an dieser Stelle Luhmann in den Dienst meiner Sache stellen: "Werte gelten [...] kraft Unterstellung ihrer Geltung. Wer wertbezogen kommuniziert, nimmt eine Art Werte-Bonus in Anspruch. Der andere muß sich melden, wenn er nicht einverstanden ist. Man operiert gleichsam im Schutze der Schönheit und Gutheit der Werte und profitiert davon, daß derjenige, der protestieren will, die Komplexität übernehmen muß. Er hat die Argumentationslast. Er läuft die Gefahr, innovativ denken und sich isolieren zu müssen. Und da immer mehr Werte impliziert sind, als im nächsten Zug thematisiert werden können, ist das Herauspicken, Ablehnen und Modifizieren ein fast hoffnungsloses Unterfangen. Man diskutiert nicht über Werte, sondern über Präferenzen, Interessen, Vorschriften, Programme. Das alles heißt nicht, daß es ein Wertesystem gäbe. Es heißt auch nicht, und das ist vor allem wichtig, daß es sich um psychologisch stabile Strukturen handele. Im Gegenteil: psychologisch scheinen Werte eine außerordentlich labile Existenz zu führen." (Niklas Luhmann: Was ist Kommunikation? In: Aufsätze und Reden. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2001). Worauf es mir bei diesem Zitat ankommt – abgesehen von dem provokativen Effekt – sind drei Aspekte: a.) nicht nur die Erklärung von Moral und Werten und ihre Genese und Metamorphose sind selbst bereits systemtheoretische Probleme (!), sondern auch das Reden darüber (hierin erkennt man sogleich die Zirkularität der Systemtheorie, da sie selbst darüber "redet"), b.) Moral und Kommunikation existieren nicht außerhalb von Systemen, c.) wir reden in Wirklichkeit nicht über Werte, sondern über "Präferenzen, Interessen, Vorschriften" und psychische "Programme", was wiederum unendlich viel voraussetzt, da psychische Programme selbst als Systeme betrachtet werden müssen. Indem man also auf diese Art und Weise Werte beansprucht, hat man – und darüber muß man sich im Klaren sein – die systemtheoretische Betrachtung verlassen, da man eine wichtige Differenzierung, und zwar die Abgrenzung von Systemen (und zwar von psychischen und sozialen Systemen), außer Acht läßt. Deine Kritik und Bewertung der Systemtheorie ist also wieder die Einnahme eines subjektiven und relativen Standpunktes, welcher – um dich endlich komplett zu verwirren – wiederum selbst durch die Systemtheorie gedeutet und erklärt werden kann. Wenn du einmal etwas über die Schwierigkeiten einer Apologie moralischer Positionen oder über die Wandelbarkeit der "Schönheit und Gutheit der Werte", worauf Luhmann mit der "labilen Existenz" anspielt, erfahren möchtest, würde ich dir "Zur Genealogie der Moral" von Friedrich Nietzsche ans Herz legen – quasi als kostenlose und unverbindliche philosophische und äußerst lesenswerte Literaturempfehlung!
Übrigens ist es natürlich total irreführend, wenn du sagst: "Zum Verständnis meiner Deutung maßgebend ist die Systemtheorie von Niklas Luhmann." Luhmanns Theorie ist der Anlaß deiner Überlegungen, aber dabei handelt es sich eben nicht um eine systemtheoretische Deutung des Romans. Zum Verständnis deiner Deutung maßgebend ist wohl eher die Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas. Außerdem beruht deine Deutung auf einigen (auch epistemologischen) Mißverständnissen der Systemtheorie, die ich selber nicht vollständig aufzuklären vermag. Ich will ein Beispiel nennen: worin liegt der Sinn, wenn man (sich) selbst steuernde Systeme als "nicht mehr steuerbar" kritisiert? Das ist absurd.
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