
Zur 2. These
Deine Belege, daß die verschiedenen Personen innerpersönliche Instanzen – sprich: "Es" oder "Über-Ich" repräsentieren – sind (meiner bescheidenen Meinung nach) insgesamt recht dürftig und die Beispiele überinterpretiert und wenig überzeugend. Auch stellt sich die Frage, was damit geklärt werden kann von den Problemen, die der Roman aufwirft (siehe "Was hat es zu bedeuten?"), oder, ob es nicht selbst zur Verkomplizierung beiträgt. Die Welt von Josef K. ist vor allem repressiv und autoritär; insofern sind Ähnlichkeiten und Vergleiche mit dem Über-Ich nicht fern; aber wo läßt sich das Triebhafte und das "revoltierende Es" wiederfinden, wenn nicht einzig und allein in K. selbst und dort auch vordergründig nur in der Frühphase der Handlung? Wenn ich mich also auf deine zweite These einlasse, die besagt, daß die zwei Wächter, Fräulein Bürstner, der Advokat, der Stellvertreter des Direktors, der Maler Titorelli, der Gefängniskaplan und alle anderen, die ich vergessen habe aufzuzählen, eigentlich, d. h. in Wirklichkeit, und ausnahmslos Projektionen von Josef K.’s primitiven Trieben und seinen geheimsten, unterdrückten Bedürfnissen, seinem durch Erziehung und Sozialisation konstituierten, unsublimierte Bedürfnisse unterdrückenden und sanktionierenden Gewissen und seinen quälenden Schuldkomplexen sind, dann muß ich feststellen, daß es zwischen den Persönlichkeitsinstanzen ein katastrophales Ungleichgewicht gibt, daß insbesondere das "Es", wenn man die Figuren des Romans betrachtet, unterrepräsentiert ist. Ferner läßt sich, wenn man These 1 und These 2 zusammen denkt, das "Ich" nicht mehr lokalisieren: entweder gibt es für das "Ich" wie für die anderen Teile der Persönlichkeit ebenfalls Repräsentanten oder Josef K. selbst verkörpert es, während sich quasi nur das "Es" und das "Über-Ich" von ihm abgesondert haben, oder die Traumwelt selbst wird als dieses "Ich" gedeutet, quasi als "Bühne des Selbst", auf der die "Akteure" – "Es" und "Über-Ich"– auftreten und ihre Konflikte austragen. Das wird in deinem Aufsatz nicht geklärt und es wird auch nicht die wohl für den Analytiker entscheidende Frage gestellt, nämlich: Warum ist das Ich nicht im Stande, zwischen "Es" und "Über-Ich" zu vermitteln? Mit anderen Worten: Warum versagt seine "synthetische Funktion"? Du drückst also dem Roman das freudsche Modell und psychoanalytische Kategorien auf, ziehst daraus aber nicht die Konsequenzen, die normalerweise der Sinn der Übung sind, nämlich eine Diagnose zu stellen und die psychische Krankheit zu identifizieren (um, was hier keinen Sinn ergibt, eine angemessene therapeutische Methode zu bestimmen). Ich nehme an, daß die Instanz der Persönlichkeit, die bestimmte Handlungen "verurteilt" und mit inneren Sanktionen "bestraft", das "Über-Ich" ist. Wenn dem so ist, ergeben sich aus deinem Text merkwürdige Konsequenzen, denn dort heißt es: Josef K. "[...] verurteilt die anderen Personen, ob ihrer Schwächen." (Übrigens ist Schwäche ziemlich doppeldeutig: sie kann entweder bedeuten, daß man es nicht schafft, sich gegen das repressive "Über-Ich" durchzusetzen, oder, daß man unfähig ist, seine Triebe und Bedürfnisse zu sublimieren.) Wer verurteilt also wen? Verurteilt Josef K. sein projiziertes "Über-Ich"? Dann hat sich das Verhältnis von Richter und Angeklagtem umgekehrt: die urteilende Instanz, das "Über-Ich", wird selbst verurteilt. Das erscheint mir nicht sehr konsistent, nicht besonders schlüssig und übrigens auch nicht vereinbar mit psychoanalytischen Ansichten. Zudem wird die 2. These durch dich selbst in entscheidender Weise geschwächt und abgemildert: "Zumeist vereinigen diese Anderen Aspekte von Über-Ich und Es in sich (wobei sie natürlich auch weiterhin Teil von K.s Person sind)." Also nicht: entweder – oder, sondern: sowohl – als auch. Das Problem ist folgendes: eine Projektion, die entweder das eine, oder das andere ist, würde sich im Proceß-Roman ohne größere Schwierigkeiten nachweisen und gegen den jeweiligen entgegengesetzten Typ abgrenzen lassen, da sich die Kriterien und Eigenschaften der beiden Typen ausschließen. Die 2. These wäre somit in gewisser Weise überprüfbar, d. h. auch widerlegbar. Nach der zitierten Immunisierung deiner These, ist das nicht mehr möglich. Jetzt läßt sich nicht mehr unterscheiden, ob es sich lediglich um Projektionen oder um reale Personen handelt, denn ad definitionem verfügen reale Personen ebenfalls sowohl über ein "Über-Ich", als auch über ein "Es". Das schwächt zugleich auch die 1. These: wenn es nicht mehr möglich ist, zwischen Projektionen und realen Personen zu trennen, erschwert es wiederum, zwischen Traum und Realität zu differenzieren.
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