Zur 1. These

 

Ich kann nicht – auch nicht mit viel Phantasie – erkennen, daß es sich bei dem Geschehen im Roman um eine Nahtoderfahrung handeln soll. Die Vorstellung eines jenseitigen Gerichtes ist zwar verbreitet, aber die meisten Nahtoderfahrungen, von denen ich bisher gehört habe, haben mit diesen christlichen Lehren nichts gemein. In Berichten von Leuten, die nach medizinischer Definition minutenlang tot waren und wiederbelebt wurden, kommen weder ein Gericht, noch andere repressive Instanzen vor. Sie handeln dagegen fast durchweg vom Auflösen weltlicher Zweifel und dem Finden von Frieden.

Damit bleibt, wenn wir vorerst die "metaphysischen Sinnkrisen" außen vorlassen, da ich mir ihrer Bedeutung nicht sicher bin, übrig, daß es sich bei dem, was K. erlebt, um einen Traum handeln könnte. Doch auch das erscheint mir nicht plausibel. Zwar weichen die reale und die erträumte Zeit bisweilen erheblich voneinander ab, so daß man während eines kurzen Schlummers, der – sagen wir – fünf Minuten andauert, einen Traum haben kann, in dem scheinbar ein bedeutend längerer Zeitraum verstreicht, aber Träume unterliegen auch einem ausgeprägten assoziativen Wechsel und ich habe noch von keinem Fall gehört, daß jemand eine Zeitspanne, die ein Jahr umfaßt, mit der ganzen stringenten und folgerichtigen Ausführlichkeit, die den "Proceß" auszeichnet, geträumt hätte – auch nicht in Episoden. Man möge mich berichtigen, wenn ich mich hierin im Irrtum befinde und jemand etwas anderes vernommen oder – besser noch – selbst erlebt hat. Außerdem habe ich Schwierigkeiten zu erkennen, was denn eigentlich die Handlung des Romans so traumähnlich machen soll. Daß es viele "realitätsbezogene Aspekte" gibt, kann dafür sicherlich kein Argument sein, weil hierdurch die Unterscheidung von Realität und Traum aller erst erschwert, wenn nicht gar unmöglich wird, und man umgekehrt fragen könnte: was macht uns so sicher, daß unsere Realität nicht nur ein Traum ist? Was in deiner Argumentation also vor allem fehlt, ist ein Nachweis, daß die Handlung nicht real ist, und, daß es überhaupt eine Art "Bezogenheit" auf eine Realität gibt. Ansonsten ist der Realitätsbezug wohl eher ein Argument gegen dich und für einen Realismus der Handlung. Dein Hauptargument besteht aber aus einigen Beispielen, die dich zum dem Schluß und der Vermutung bewegen, "[...] daß diese Geschichte nicht in der Alltagswelt spielen kann. Wahrscheinlicher erscheint einem da schon eine Traumwelt, in der die Gesetze der Logik und der Konvention außer Kraft gesetzt sind." Erst einmal: ich kenne Gesetze der Logik, aber keine Gesetze der Konvention. Vielleicht könntest du mich hierüber aufklären. Und weiter: es widerspricht doch nicht der Logik (oder ihren Gesetzen), daß sich Gerichtskanzleien auf einem Dachboden befinden etc., es widerspricht lediglich der (voreilig verallgemeinerten) Alltagserfahrung. Insgesamt möchte ich dir in diesem Punkte rigoros widersprechen: "Der Proceß" besticht gerade durch seine Logik und Folgerichtigkeit, durch seine Sachlichkeit und sein nicht nur denkbares, sondern jederzeit mögliches, also reales Szenario. Das ist ein zentraler Bestandteil des Dilemmas, in das Josef K. gerät. Was sich allein Logik, Erfahrung und Realität entzieht, ist das Gericht. Das ist das Mysterium, von dem der Roman handelt: die Existenz und Wirklichkeit des Gerichtes ist unhaltbar und dennoch kann man sich seiner Macht nicht entziehen. Noch einmal zur Logik: natürlich gibt es im Roman zahlreiche Paradoxien; allerdings bin ich der Überzeugung, daß es die Aufgabe einer Deutung ist, diese zu lösen und aufzuklären, anstatt sie als Indiz für die Irrealität der Handlung zu nehmen. Was die Konvention anbelangt, sehe ich dich in einem schweren Widerspruch: einerseits bezeichnest du sie im Traum als "außer Kraft gesetzt", andererseits behauptest du, daß die Elemente dieses Traumes u. a. Projektionen des Über-Ichs sind, also nichts anderes als verinnerlichte Konventionen oder zumindest Spiegelungen davon. Daher meine Frage an den Psychoanalytiker: wie können Träume frei von Konventionen sein und wie läßt sich das mit der freudschen Traumanalyse vereinbaren? Ein anderes Argument, das du heranziehst, um deine These zu stützen, daß es sich bei der Geschichte um einen Traum handelt, beruft sich darauf, daß die Alltagswelt von Josef K. "zunehmend von bizarren Ereignissen infiltriert wird." An dieser Stelle hätte ich mir ein Beispiel gewünscht, um erkennen zu können, was du unter "bizarren Ereignissen" verstehst! Wenn ich an eine Erzählung wie die "Verwandlung" denke, dann scheint es mir unzweifelhaft, was mit einem "bizarren Ereignis" gemeint ist, bei dem Roman "Der Proceß" bin ich dagegen unsicher. Die "Schwimmhaut", die Leni zwischen den Fingern hat (Franz Kafka: Der Proceß. S. 115), würde ich als bizarr empfinden, aber das ist für die Handlung unbedeutend und nebensächlich. Des weiteren erscheint mir deine Deutung des Romangeschehens als Traum nicht konsistent: einmal ist alles nur ein Traum, der sich in K.’s Innerem abspielt, und dann ist es doch wieder die reale Ursache für den Traum. Da heißt es beispielsweise: "Nicht unmöglich ist die Vorstellung, daß es sich bei dem Romangeschehen um die alptraumhafte Verarbeitung von Josef K.’s dreißigstem Geburtstag handelt;" Aber auf welcher Wirklichkeitsebene spielt sich dann der Geburtstag ab: ist er Traum oder ist er der reale "Bruch im Leben eines Menschen", der zum Auslöser für die Verarbeitung im Traum wird? Natürlich könnte man die Geschehnisse des ersten Kapitels bereits als traumatische Reflektion auf ein reales Ereignis deuten, aber dann wird es schwierig über den eigentlichen Auslöser etwas auszusagen, geschweige denn zu entscheiden, ob es sich dabei tatsächlich um einen Geburtstag gehandelt hat. (Vielleicht ist ja das 30-Jahre-alt-werden in diesem Fall das traumatische Ereignis gewesen? Soll vorkommen.) Das selbe Problem stellt sich bei dieser Aussage: "Bei K. ist durch die repressive Gesellschaftsnorm das Über-Ich besonders machtvoll." Da aber das Über-Ich nur in den Traum hineinprojiziert wird, muß die Ursache für seine starke Ausprägung außerhalb des Traumes liegen. Womit haben wir es also zu tun, wenn von einer "repressiven Gesellschaftsnorm" die Rede ist? Es stellt sich nämlich die Frage, wenn alles, was uns geschildert wird, nur ein Traum sein soll, woher wir dann wissen, was ihn ausgelöst hat, was sich mithin außerhalb von ihm befindet und uns nirgends geschildert wird? Es ist an dieser Stelle also unerläßlich zu erklären, inwieweit der Traum auf die Realität referiert. Doch das erscheint (mir persönlich) prinzipiell unmöglich zu sein, da sich innerhalb des Traumes und ohne Vergleichsmöglichkeiten keine zuverlässigen Hinweise ergeben, zu unterscheiden, wozu es reale Entsprechungen gibt und wozu nicht. Doch die Handlung des Romans ist weitestgehend geschlossen (abgesehen von der Erzählung in der Erzählung, "Vor dem Gesetz", und einem Traum im Fragment gebliebenen Kapitel "Das Haus") und nirgends findet sich der Hinweis, daß es eine höhere Handlungsebene gibt – z. B. die Schilderung eines Erwachens des Träumenden. Da fällt mir ein: kann man eigentlich in seinen Träumen sterben oder erwacht man nicht zuvor? Außerdem erscheint mir der imaginäre Tod eine undenkbare Lösung für eine Neurose zu sein, außer in der simultanen Erschaffung einer neuen Persönlichkeit bei sogenannten multiplen Persönlichkeitsspaltungen. Noch ein letztes zu diesem Abschnitt: K. glaubt unbeirrt, "[...], sich noch immer in seiner Alltagswelt zu befinden, [...]." Tatsächlich? Wenn wir den "Alltag" einmal nicht als reales Gegenstück dem Traum gegenüberstellen, würde ich das bestreiten wollen und dir folgendes entgegenhalten: K.’s Alltag ist mit der Verhaftung durch- und unterbrochen und seine bisherige Erfahrungen, auf die er sich scheinbar immer erfolgreich verlassen konnte, erschüttert wurden. Alle seine anschließenden Bemühungen sind darauf ausgerichtet, diesen früheren, bürgerlich-banalen Alltag, der im wesentlichen aus seiner Arbeit in der Bank, aus Stammtischbesuchen und gelegentlichen Besuchen bei einer gewissen Elsa (über die wir nichts genaueres erfahren) bestand, wiederherzustellen.

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