Allgemeines, Verständnisfragen, Zusammenfassung der Thesen

 

Hallo Robert,  

du wolltest konstruktive Kritik haben und konstruktive Kritik sollst du bekommen; auch werde ich – selbst auf die Gefahr hin, daß es mir als Arroganz ausgelegt wird – mit meiner persönlichen Meinung nicht zurückhalten. Meine kritische Würdigung deines Diskussions-Beitrages wird sich allerdings nicht darauf gründen, daß ich Popper gegen Freud wiedergebe, weil ich a.) über Kafka reden will und nicht über den ehrenwerten Freud, b.) eigentlich auch kein großes Interesses an einer Diskussion über positivistische Defizite der Psychoanalyse habe und c.) trotzdem hoffe, daß meine Literaturempfehlung nicht im "Rauschen des Systems" untergegangen, sondern anschlußfähig ist. Statt dessen werde ich mich der Kohärenz deiner Deutung widmen, vor allem der Haltbarkeit der zentralen Behauptung, daß es zwischen dem Proceß-Roman und der Psychoanalyse Korrespondenzen gibt, was ich, um es gleich vorwegzunehmen, gar nicht bestreiten will, sondern die Stärke des Zusammenhangs und der Übereinstimmung, wie sie dir vorschwebt.

 

Vieles scheint bei dem Roman "Der Proceß" wichtig und vieles läßt sich nicht in Einklang miteinander bringen. In dieser Schwierigkeit sehe ich die Ursache, daß zahlreiche Deutungen und Interpretation schamlos Reduzierung betreiben. Ich meine damit nicht die Perspektive, die durch den Deutenden eingenommen wird, oder den spezifischen Hintergrund, den er mitbringt oder auf den er sich beschränkt, sondern die Inkonsequenz, daß die Deutung, die sich an Einzelnem bestätigt hat, nicht auch auf das andere angewendet wird. Man stößt hier ziemlich schnell in das Herz hermeneutischer Probleme vor: Lassen sich Interpretationen überprüfen? Gibt es Kriterien, die es erlauben, zwischen zwei Deutungen zu unterscheiden, welche die stärkere von beiden ist, sprich: welche sich als kohärenter erweist und zwischen den einzelnen Teilen eines literarischen Textes mehr Einklang herstellen kann? Anders ausgedrückt: muß sich eine "Hypothese", die behauptet, sie könne erklären, was ein Text (oder ein Gedicht) bedeutet, nicht daran messen lassen, wie spezifisch bzw. wie verallgemeinerungsfähig sie ist? Das habe ich mich gefragt, bevor ich mich hingesetzt habe, um den "Proceß" zu deuten, und ich möchte diese Fragen jetzt weitergeben. Im zweiten Abschnitt meiner Betrachtungen habe ich den Fokus auf einige Aspekte und Probleme des Romans lenken wollen, die ich dermaßen wichtig finde, daß ich von einer kohärenten Deutung verlange, sie nicht zu übergehen, sondern zu berücksichtigen. Von der Beantwortung dieser Fragen ("Was hat es zu bedeuten?") würde ich mein Urteil abhängig machen. Daher die Frage an dich, Robert: welche dieser Fragen hast du mit deinem Beitrag »Der Proceß als Spiegel Freudscher Persönlichkeitskonflikte« beantworten können? Übrigens will ich gar nicht behaupten, daß ich selbst diese Fragen allesamt und vollständig beantwortet hätte – ganz im Gegenteil: ich war bei ihrer Formulierung eigentlich auch auf die Diskussion bedacht, der offene Fragen und Probleme zu Gute kommen würden. Auffällig ist zum Beispiel, daß alle drei Beiträge, eine Deutung der Parabel "Vor dem Gesetz" umgehen (und ich selbst habe dazu nur einen Satz geschrieben). Das finde ich äußerst augenfällig, da es sich dabei bekanntlich um eine der zentralen Passagen des Romans handelt.

 

 

Drei Verständnisfragen habe ich auf dem Herzen:

 

1. Was verstehst du unter "metaphysischen Sinnkrisen"? (Auch möchte ich dich bitten, philosophische Termini in meiner Gegenwart mit Bedacht zu wählen und zu gebrauchen, da ich im Umgang mit ihnen sensibilisiert bin. War das arrogant?)

2. Das Ich-Ideal. Was ist das und warum gehört es, wenn es eine "überlebensgroße Wunschvorstellung" ist, nicht zu dem Teil der Persönlichkeit, den Freud "Es" nennt?

3. Die "Abwehrreaktion" in Form einer Projektion "unerwünschter Verhaltensweisen auf andere". Könntest du das anhand eines möglichst einleuchtenden Beispiels, das nichts mit dem "Proceß" zu tun hat, näher erläutern?

 

 

Eine schamlose Reduzierung werde ich einmal unverhohlen begehen, indem ich die zentralen Thesen deines Skriptes zusammenfasse:

 

1. Die Handlung des Romans bildet nicht die Realität und die tatsächliche Alltagwelt, sondern einen Traum (oder eine Nahtoderfahrung) Josef K.’s ab. Alles, was geschieht, spielt sich in seinem Inneren ab und wird von ihm imaginiert.

2. Alle Personen außer Josef K. sind lediglich Projektionen und Repräsentanten seiner Persönlichkeitsinstanzen (Es, Ich, Über-Ich) und -konflikte.

3. Er selbst ist aber unfähig, das zu erkennen und seine inneren, nach außen projizierten Konflikte zu lösen. Darin besteht seine eigentliche Schuld. Dadurch wird er, indem er die anderen verurteilt, – ohne es zu wissen – zu seinem eigenen Richter.

4. Neben diesen drei zentralen Thesen gibt es noch zwei in deinem Beitrag geäußerte Punkte, die ich persönlich äußerst interessant finde und auf die ich an späterer Stelle zurückkommen möchte, um sie zusammenführen:

a. "In der abendländischen Kultur ist die Vorstellung eines Gerichthaltens nach dem Tode verbreitet."

b. "Bei K. ist durch die repressive Gesellschaftsnorm das Über-Ich besonders machtvoll."

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