
4. Theodizee
»In meinem Fall geht Macht vor Recht«, sagt Hiob (siehe oben) und ebenso könnten es die Worte des Josef K. sein. Auch muß dieser Vorwurf unweigerlich an die Passage im »Proceß« erinnern, in der – zwar symbolisch chiffriert, aber doch recht deutlich – die verhängnisvolle Verbindung von Macht und Recht zur Sprache kommt. Gemeint ist der Besuch bei dem Maler Titorelli, bei dessen Gelegenheit K. auf dem Portrait eines Richters eine schemenhafte Figur entdeckt, die sich auf seine Nachfrage hin als Darstellung eines Hybridwesens aus Justitia und Victoria herausstellt, in seinen Augen aber große Ähnlichkeit mit der Göttin Diana gewinnt:
»Es ist die Gerechtigkeit«,
sagte der Maler schließlich. »Jetzt erkenne ich sie schon«, sagte K., »hier
ist die Binde um die Augen und hier ist die Wage. Aber sind nicht an den Fersen
Flügel und befindet sie sich nicht im Lauf?« »Ja«, sagte der Maler, »ich mußte
es über Auftrag so malen, es ist eigentlich die Gerechtigkeit und die Siegesgöttin
in einem.« »Das ist keine gute Verbindung«, sagte K. lächelnd, »die
Gerechtigkeit muß ruhen, sonst schwankt die Wage und es ist kein gerechtes
Urteil möglich.« [...] Um die Figur der Gerechtigkeit aber blieb es bis auf
eine unmerkliche Tönung hell, in dieser Helligkeit schien die Figur besonders
vorzudringen, sie erinnerte kaum mehr an die Göttin der Gerechtigkeit, aber
auch nicht an die des Sieges, sie sah jetzt vielmehr vollkommen wie die Göttin
der Jagd aus.[1]
Apropos Jagd! Was hier anklingt und nachhallt, abermals kann man darin die Klage Hiobs erkennen, mit der er sich an den schweigenden Gott wendet:
Gelingt mir etwas und ich fühle
Stolz,
so machst du wie ein Löwe Jagd
auf mich
und ängstigst mich mit deiner Übermacht.[2]
Er beklagt das Unglück, das ihm widerfahren ist, trotzdem er stets rechtschaffen war und sich vor Gott und den Menschen nichts hat zu schulden kommen lassen. Er fragt: Warum verfolgst du mich? Warum muß ich leiden? Weil er darauf keine Antwort finden kann, muß ihm sein Dasein sinnlos erscheinen. Die Frage läßt ihn nicht mehr los, sie quält ihn Tag und Nacht und er gerät darüber in Zweifel zu Gott, an dessen Güte und Gerechtigkeit er bislang geglaubt hat. Wie läßt sich ein gütiger und gerechter Gott rechtfertigen angesichts der Existenz von Leid und Elend in der Welt (vor allem solches, das nicht vom Menschen selbst verursacht ist, also z. B. Krankheiten und Naturkatastrophen)? Wie läßt sich der Glaube an das göttliche Gesetz (die Zehn Gebote) und dessen Beobachtung damit vereinbaren, daß der Gesetzgeber, wenn es um die Verteilung von Glück und Unglück geht, offenbar selbst nicht zwischen Gut und Böse, zwischen Ehre und Schuld unterscheidet, sondern beides scheinbar ganz willkürlich und zufällig in der Welt verteilt, so daß der »Menschensohn« von seinem »Vater im Himmel« sagt:
Denn er läßt die Sonne scheinen
auf böse wie auf gute Menschen,
und er läßt es regnen auf alle,
ob sie ihn ehren oder verachten.[3]
Warum läßt dieser Gott es zu, daß unschuldige Menschen sterben? Warum hat er, wenn er tatsächlich so mächtig ist, wie man behauptet, die Zerstörung Jerusalems durch das römische Imperium, die Verfolgung der Juden im Mittelalter und den Holocaust zugelassen? Warum hat er 1755 das große Erdbeben in Lissabon zugelassen? Warum hat er den feigen Anschlag auf das World Trade Centre in New York und das Pentagon in Washington D.C. zugelassen? Warum läßt er es zu, daß jeden Tag zigtausend Kinder – von allen die Unschuldigsten – verhungern müssen; sind sie sein Manna nicht wert?
Das sind die bis dato nicht ausgeräumten Probleme und die immer wieder gestellten Fragen, die eine Theodizee (gr. theos: Gott; dike: Recht) lösen und beantworten muß. Der Begriff selbst stammt von Leibniz (1646-1716), der einen solchen Versuch unternommen hat, und bedeutet soviel wie Rechtfertigung Gottes, hingegen die Problematik wurde schon von Epikur (341-270 v. Chr.) erkannt und präzise auf den Punkt gebracht:
Entweder will Gott die Übel
beseitigen, aber er kann nicht:
dann ist er schwach, was auf Gott
nicht zutrifft,
oder er kann, aber er will nicht:
dann ist er mißgünstig, was Gott
fremd ist,
oder er will nicht und kann nicht:
dann ist er sowohl schwach, als
auch mißgünstig, also nicht Gott,
oder er will und kann, was allein
sich für Gott ziemt:
woher kommen dann die Übel und
warum nimmt er sie nicht weg?
Einem Atheisten wird es nicht schwer fallen die letztere Frage zu beantworten und das ganze Problem quasi in nichts aufzulösen – wie das Schwert Alexander des Großen den gordischen Knoten. Ja, er wird sich dieser oder einer ähnlichen Argumentation bedienen, um die Existenz Gottes zu negieren und zu widerlegen, wie Georg Büchner in seinem Drama »Dantons Tod«:
Schafft das Unvollkommne weg, dann
allein könnt ihr Gott demonstrieren; Spinoza hat es versucht. Man kann das Böse
leugnen, aber nicht den Schmerz; nur der Verstand kann Gott beweisen, das Gefühl
empört sich dagegen. Merke dir es, Anaxagoras: warum leide ich? Das ist der
Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich nur in
einem Atom, macht einen Riß durch die Schöpfung von oben bis unten.[4]
Aber das auf Kafka zu übertragen, um nach dem kleinen Exkurs wieder auf ihn zu sprechen zu kommen, bleibt eine schwierige Aufgabe, da sich im »Proceß« das Verhältnis umkehrt: desto mehr K. leidet, desto ernster er die unergründbare Schuld nimmt und desto mehr er sich in die Angelegenheit verwickelt, um so größer scheint auch das Gericht und seine Macht zu werden und um so geringer K.’s Kraft sich ihm zu entziehen. Während K. anfangs von diesem Gericht niemals etwas gehört haben will, steigert sich im weiteren dessen Gegenwart bis zu dem Punkt, an dem es heißt: »Es gehört ja alles zum Gericht.«[5] Dabei drängt sich natürlich die Frage auf: Wie konnte ihm dreißig Jahre lang die Existenz einer derart omnipräsenten Institution entgehen? Von Atheismus kann also gar nicht die Rede sein, außer in erkenntnis-theoretischer Hinsicht, denn trotz dieser Steigerung bis zum Absoluten bleibt das Gericht weiterhin unsichtbar, unüberschaubar und für den Lebenden unerreichbar. Wenn man den »Proceß« also konsequent auf die Art interpretiert, daß man Figuren und Geschehnisse als Symbole für theologische Themen ansieht, dann ist die Frage, die sich am dringlichsten der Theodizee stellt: Wie läßt sich etwas rechtfertigen, daß in der Welt, in der Realität, in der Erfahrung überhaupt nicht vorkommt? Wie läßt sich an das Dasein von etwas glauben, daß nur in Legenden und Überlieferungen existiert? Man braucht nicht leiden, um sich das zu fragen – es ist die Glaubensfrage schlechthin. Es sind – korrespondierend dazu – auch eher Passivität und Gleichgültigkeit, die das Gericht kennzeichnen, und nicht Mißgunst. Darüber hinaus finden sich weitere Indizien, daß die Theodizee im »Proceß« explizit thematisiert wird. Bereits im ersten Kapitel fordert K. von seinen Bewachern sich zu legitimieren, was mitein- schließt den Grund seiner Verhaftung zu erfahren. Weil dies unterbleibt, wird er – ähnlich wie Hiob – selbst zum Ankläger und kritisiert das Verfahren gegen ihn als sinnlos.[6] Schließlich ist die Formel »Macht = Recht«, die mit dem Problem der Theodizee und dem des Fatalismus einhergeht, anscheinend Gegenstand so gut wie jeder Passage des »Proceß«-Romans.
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[1] Franz Kafka: Der Proceß. S. 153f. Anmerkung: Der Text behält die eigentümliche Orthographie Kafkas bei. Hier ist also beim Zitieren durchaus kein Fehler unterlaufen: es heißt tatsächlich »Wage« anstatt »Waage«.
[2] Hiob 10, 16
[3] Matthäus 5, 45
[4] Georg Büchner: Dichtungen. Verlag Philipp Reclam jun.: Leipzig 1976, S. 52.
Anmerkung: Spinoza und Anaxagoras sind Philosophen. Der Name des letzteren wird hier ironisch als Anrede gebraucht.
[5] Franz Kafka: Der Proceß. S. 158
[6] vgl. Franz Kafka: Der Proceß. S. 56