
5. Freiheit, Entfremdung und Sinnverlust
Durch die Frage, ob die Entscheidungsfreiheit des Menschen, mithin seine Verantwortung und Selbstbestimmung noch möglich wären, wenn Gott beständig in die Welt eingreifen würde, um die Übel zu mildern und Gerechtigkeit zu erwirken, erleidet das Problem der Theodizee eine fundamentale Restriktion. Anstatt Schuld und Verantwortung abzuwälzen, indem man Gott die Macht und die Fähigkeit zuschreibt, das Leid und das Böse zu tilgen, und ihm die Unterlassung zum Vorwurf macht, läßt sich die Nichteinmischung und die zufällige und gleichmäßige Verteilung von Glück und Unglück auch als Bedingung der menschlichen Freiheit verstehen und das Gute und das Böse als vom Menschen verursacht, der die Wahl zwischen beidem hat. Aber, wenn man von Freiheit, von Schuld und vom Bösen redet, sei es nun entweder in Bezug auf die Theodizee oder im Zusammenhang mit Kafkas »Proceß«, dann kommt man nicht umhin, einen anderen alttestamentarischen Mythos zu berücksichtigen, von dem in der »Genesis« die Rede ist: den sogenannten »Sündenfall« und die Vertreibung des Menschen aus dem »Paradies«, worauf sich allein die christliche Ideologie mit dem Begriff der »Erbsünde« bezieht. Die Symbole dieses Mythos bilden bei Kafka den Rahmen für seine Erzählung; wobei man auch erwähnen sollte, daß die Kapitel »Verhaftung« und »Ende« in einem Zug und vor dem Rest entstanden sind.[1] Im ersten Kapitel begegnet dem Leser der Apfel, der zum Symbol der verbotenen Frucht des Baumes der Erkenntnis geworden ist:
Er warf sich auf sein Bett und
nahm vom Nachttisch einen schönen Apfel, den er sich gestern Abend für das Frühstück
vorbereitet hatte. Jetzt war er sein einziges Frühstück und jedenfalls, wie er
sich beim ersten großen Bissen versicherte, viel besser, als das Frühstück
aus dem schmutzigen Nachtkafe gewesen wäre, das er durch die Gnade der Wächter
hätte bekommen können.[2]
Der Mensch ißt also von der Frucht, von der zu essen ihm verboten war – und was sind die Folgen? Ihm gehen die Augen auf, er erlangt Selbstbewußtsein, sein Gewissen erwacht; weil er etwas Verbotenes getan hat, fühlt er sich schuldig, und, da er nackt ist, empfindet er Scham. Das wird im letzten Kapitel des »Proceß«-Romans aufgegriffen, in dem K., nachdem er von seinen stummen Henkern halb entblößt wurde, erstochen wird:
»Wie ein Hund!« sagte er, es
war, als sollte die Scham ihn überleben.[3]
Die letzten Worte des Josef K., der letzte Satz des Buches – wer mag angesichts dessen noch an einen Zufall glauben? Aber unterlassen wir Rhetorik, wo bereits Religion im Spiel ist, und erlauben jedem, sich seine eigene Meinung zu bilden – zumal diese Analogien noch weitest- gehend unbedeutsam sind. In Hinblick auf Scham, Schuld und Sünde und auf das christlich-orthodoxe Sakrament der Beichte, könnte eine andere Textstelle von größerem Interesse sein, nämlich jene, in der Leni ihre Ansicht, ihre Version und ihren Rat kundgibt – einen von vielen, die K. im Laufe der Zeit von verschiedenen Personen bekommt:
»Fragen Sie bitte nicht [...],
gegen dieses Gericht kann man sich ja nicht wehren, man muß das Geständnis
machen. Machen Sie doch bei nächster Gelegenheit das Geständnis. Erst dann ist
die Möglichkeit zu entschlüpfen gegeben, erst dann. [...]«[4]
Aber auch das ist nebensächlich, eine Kleinigkeit, ein Indiz, nichts weiter. Zuerst müssen die zentralen Begriffe wie »Proceß«, »Gericht«, »Urteil« und das Paradox der »Verhaftung« übertragen, erläutert und gedeutet werden. Man kehre zu diesem Zwecke noch einmal zurück zu eben jenem Mythos in der »Genesis«, der auf der vorigen Seite bereits Erwähnung gefunden hat. Auch hier handelt die Erzählung, ähnlich wie beim »Proceß« das erste Kapitel, von einem scheinbar paradoxen Ereignis, das zugleich einen Verlust und einen Gewinn bedeutet: der Mensch verliert das Asyl im »Garten Eden«, aber er gewinnt die Freiheit.
In der Mitte des Gartens wuchsen
zwei besondere Bäume: ein Baum, dessen Früchte unvergängliches Leben
schenken, und einer, dessen Früchte ein Wissen geben, das von Gott unabhängig
macht.[5]
Von der Frucht des letzteren Baumes behauptet die Schlange – offenbar ohne zu lügen:
»[...] Aber Gott weiß: Sobald
ihr davon eßt, werden euch die Augen aufgehen, und ihr werdet wie Gott sein,
wissend was gut und schlecht ist. Dann werdet ihr euer Leben selbst in die Hand
nehmen können.«[6]
Und so heißt es, nachdem das Unvermeidbare geschehen ist:
Dann vertrieb er [Gott] den
Menschen aus dem Garten Eden. Denn er dachte: »Nun ist der Mensch wie einer von
uns geworden, und alles Wissen steht ihm offen. Es darf nicht sein, daß er auch
noch vom Baum des Lebens ißt. Sonst wird er ewig leben! [...]«[7]
Die Verhaftung des Josef K. zeugt von derselben Ambivalenz: Er wird verhaftet und verliert seine »Unschuld«, seine Unwissenheit, sein unbehelligtes Dasein, aber er bleibt frei. Selbst diese Freiheit ist ambivalent: »Der Mensch ist«, wie Sartre sagt, »verurteilt frei zu sein.« Auch ist in dem Zusammenhang die Erkenntnis des Guten und des Bösen nicht unwesentlich, selbst wenn sich sukzessiv herausstellt, daß sie K. nichts nützt. Die Möglichkeit, daß dem Menschen grundsätzlich alles Wissen offensteht, wird zwar immer wieder angedeutet, aber auch jedesmal erbarmungslos negiert und damit jede Hoffnung, die K. hegt. Das ist Kafkas Skeptizismus und die solipsistische Tendenz seines Romans »Der Proceß«. Das geht so weit, daß nicht nur jede Form einer objektiven Erkenntnis geleugnet wird, sondern auch jeder intersubjektiver Erfahrungsabgleich: entweder widersprechen sich die Aussagen oder sie sind vieldeutig, bedeutungs- und gehaltlos. Dabei werden logische Kategorien wie »wahr« und »falsch« und ethische Kategorien wie »gut« und »böse« ständig verdreht. Über die Welt reden wird zum metaphysischen Akt. Der Advokat, der Maler Titorelli, der Gefängniskaplan und die niederen Gerichtsbeamten – sie sind nichts als Scharlatane, die vorgeben etwas zu wissen und die von Dingen reden, die ihre eigene Erfahrung übersteigen. Sie brüten über Gesetzen, die keiner kennt, sie verfassen Eingaben, die keiner versteht, und sie skizzieren Auswege, die keinen Sinn ergeben. Selbst ein Insider, wie Titorelli, spricht vom Gesetz, wie der Blinde von der Farbe. Vermittelt durch die eingeschränkte, hilflose Perspektive des personalen Erzählers, begibt man sich als Leser in eine hermetisch abgeschlossene, solipsistische Mauernische, einen idealistischen Kerker und ein skeptizistisches Labyrinth, aus dem es kein Entkommen gibt, da jede Erkenntnis prinzipiell unmöglich ist. Eine Rechtfertigung moralischer Werte und eine Begründung des Daseins kann der Mensch nur noch durch und in sich selbst finden. Das drückt sich schlußendlich auch in dem Gleichnis »Vor dem Gesetz« aus, das die Thematik des Romans »Das Schloß« vorwegnimmt und mit dem »Sündenfall« eines gemeinsam hat: beide handeln von der Entfremdung des Menschen von Gott. Nicht umsonst gibt es auch vor dem »Paradies«, aus dem der Mensch vertrieben wurde, Türhüter:
Den Eingang des Gartens ließ Gott durch die Keruben und das flammende Schwert bewachen. Kein Mensch sollte zum Baum des Lebens gelangen.[8]
Die »Verhaftung« repräsentiert also – und man verstehe dieses »also« vornehmlich so, daß es nur beansprucht, das bisher Gesagte zu rekapitulieren und das Lose zusammen zu fassen, damit auch dem rastlosen, dem flüchtigen Leser die diffizilen Behauptungen und die kleinen Details nicht entgehen, die auf Größeres aus sind und deren Zusammenhang man leicht aus den Augen verlieren kann – sie repräsentiert also einen erkenntnistheoretisch bedenklichen Solipsismus, eine zwiespältige Freiheit und einen alttestamentarischen Mythos. Mit dem letzteren gehen dann wiederum Assoziationen und Konnotationen einher, die auf das Heraus- treten des Menschen aus der Natur, die auf das Wachsen der Erkenntnis, auf das »Aufgehen« des Bewußtseins, auf die Entfaltung von Verantwortung für Handlung und Leben und auf den Verlust einer Unschuld, die nur Tieren und Pflanzen zukommt, referieren. Aber damit sind die Bedeutungen der »Verhaftung« noch nicht erschöpft. Sie ist außerdem die Inszenierung der Geburt; wer das erste Kapitel aufmerksam gelesen hat, ruft sich ins Gedächtnis, daß der Tag, an dem man Josef K. verhaftet, zugleich sein dreißigster Geburtstag ist. Was sich dahinter verbirgt, ist ein nicht wenig skurriler Gedanke, der dem »hermetischen Eingeschlossensein« eine ganz neue Bedeutung gibt: das Leben selbst wird dadurch zur »Haft« und die äußeren Grenzen dieser Gefangenschaft, die massiven Mauern dieses Gefängnisses heißen Geburt und Tod. Aber, um sich zu vergewissern, daß dieser Gedanke – so skurril und befremdend er vielleicht auch erscheinen mag – durchaus nicht unbeansprucht ist, braucht man lediglich auf den bereits mehrfach erwähnten und zum Zitat herangezogenen Hiob zurückzugreifen:
Warum gibt Gott den Menschen Licht
und Leben,
ein Leben voller Bitterkeit und Mühe?
Sie warten auf den Tod, doch der
bleibt aus.
Sie suchen ihn viel mehr als alle
Schätze.
Sie freuen sich auf ihren letzten
Hügel
und jubeln beim Gedanken an ihr
Grab.
Wohin mein Leben führt, ist mir
verborgen,
mit einem Zaun hält Gott mich
eingeschlossen.[9]
Das erinnert noch an ein anderes Prosa-Stück von Kafka. In der Kurzgeschichte »Ein Traum«, die ebenfalls von einem Josef K. berichtet, aber nicht in den »Proceß« aufgenommen wurde, wird das Lebendig-Begraben-Werden zum erlösenden Ereignis:
Schon von der Ferne faßte er
einen frisch aufgeworfenen Grabhügel ins Auge, bei dem er Halt machen wollte.
Dieser Grabhügel übte fast eine Verlockung auf ihn aus und er glaubte, gar
nicht eilig genug hinkommen zu können. [...] Endlich verstand ihn K.; ihn
abzubitten war keine Zeit mehr; mit allen Fingern grub er in die Erde, die fast
keinen Widerstand leistete; alles schien vorbereitet; nur zum Schein war eine dünne
Erdkruste aufgerichtet; gleich hinter ihr öffnete sich mit abschüssigen Wänden
ein großes Loch, in das K., von einer sanften Strömung auf den Rücken
gedreht, versank. Während er aber unten, den Kopf im Genick noch aufgerichtet,
schon von der undurchdringlichen Tiefe aufgenommen wurde, jagte oben sein Name
mit mächtigen Zieraten über den Stein.[10]
Dieser erträumte Tod steht natürlich im krassen Gegensatz zu dem realen, den K. am »Ende« erleidet. Aber es gibt einen anderen bemerkenswerten Zusammenhang zwischen dem letzten Kapitel des Romans und der Kurzgeschichte: so wie sich in dem einen Fall nicht ausmachen läßt, ob Josef K. die Richtung bestimmt oder seine Begleiter, die sich an ihn klammern, so läßt sich in dem anderen Fall nicht unterscheiden, ob er aus freien Stücken zum Friedhof spaziert oder der Weg ihn dorthin zieht. Untrennbar sind in beiden Fällen Vorher- und Selbstbestimmung, Schicksal und Absicht, Zwang und Freiheit, Passivität und Aktivität miteinander verwoben und das Ziel ist notwendig und zugleich zufällig gewählt.
Zum Tod und zum »Ende« ist man angelangt – und damit zum »Urteil«. Dieses »Urteil« wird in einem Zug mit der Verbannung aus dem »Garten Eden«[11] über den Menschen verhängt:
»Dein Leben lang wirst du hart
arbeiten müssen [...]. Viel Mühe und Schweiß wird es dich kosten. Zuletzt
aber wirst du wieder zur Erde zurückkehren, von der du genommen bist. Staub von
der Erde bist du, und zu Staub mußt du wieder werden.«[12]
Wenn man das berücksichtigt, macht es vielleicht auch mehr Sinn anstatt von »Erbsünde«, von einem »Erburteil« zu sprechen, einem Erbe, das man von seinen Eltern empfängt und an seine Kinder weitergibt und das auch durch die Zahl der Erben nicht geschmälert wird, einem »Urteil«, von dem bis heute kein menschliches Wesen begnadigt und ausgenommen wurde:
»Keinen einzigen Freispruch also«,
sagte K. als rede er zu sich selbst und zu seinen Hoffnungen.[13]
Aus diesem Kontext heraus sollte man auch den folgenden Worten von Hiob, die zu einer früheren Gelegenheit bereits angeführt wurden, eine größere Allgemeinheit beimessen:
Soll ich ihn etwa noch um Gnade
bitten,
ihn, der das Urteil schon
beschlossen hat?
[...]
Daß
ich im Recht bin, hilft mir nichts bei ihm;
ob
schuldig oder nicht – er bringt mich um![14]
Wenn aber das »Urteil« der Tod ist, dann ist der stete und langsame Übergang das Sterben:
»Das Urteil kommt nicht mit
einemmal, das Verfahren geht allmählich ins Urteil über.«[15]
Folgerichtig muß, wenn die »Verhaftung« die Geburt und das »Urteil« den Tod symbolisiert, das Dazwischenliegende – das Verfahren selbst – als Leben gedeutet werden. Dem zu Leben, Freiheit, Ungewißheit, Bewußtsein und Sterblichkeit »verurteilten« Menschen steht eine kalte und gleichgültige Welt gegenüber, deren innere Gesetzmäßigkeit sich ihm nicht erschließt und auf seine Existenz keine Rücksicht nimmt:
»[...] Das Gericht will nichts
von Dir. Es nimmt Dich auf wenn Du kommst und es entläßt Dich wenn Du gehst.«[16]
Daraus ergeben sich schließlich diese simplen Zuordnungen:
|
Proceß |
Leben, Dasein |
|
Verhaftung |
Geburt |
|
Urteil |
Tod |
|
Gericht |
Welt (wobei der Übergang von Schöpfung zu Schöpfer bei Kafka fließend ist) |
|
Gesetz |
Gott, Naturgesetz |
Zur Prävention von Mißverständnissen soll gleich hinterhergeschickt werden: Gerade diese Simplifikation verlangt nach Kritik. Natürlich reicht die Identifizierung von »Proceß« und Leben nicht aus. Der »Proceß« ist auch die Beschreibung einer Selbstzerstörung, einer stetig voranschreitenden schizoiden Entwicklung, die im Glauben an eine vollkommene Befreiung, sprich: eine Erlösung, metaphysischen Fiktionen Autorität und einer absurden Schuld erst ihre Gestalt verleiht und im Versuch sich gegen sie zu verteidigen, ihre Verinnerlichung bewirkt.
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[1] vgl. Nachbemerkung von Malcolm Pasley. In: Franz Kafka: Der Proceß. S. 282
[2] Franz Kafka: Der Proceß. S. 16. Anmerkung: Der Text behält die eigentümliche Orthographie Kafkas bei. Hier ist also beim Zitieren durchaus kein Fehler unterlaufen: es heißt tatsächlich »Nachtkafe« anstatt »Nachtcafé«.
[3] Franz Kafka: Der Proceß. S. 241
[4] Franz Kafka: Der Proceß. S. 113f.
[5] Genesis 2, 8-9
[6] Genesis 3, 5
[7] Genesis 3, 22-23
[8] Genesis 3, 24
[9] Hiob 3, 20-23
[10] Franz Kafka: Ein Traum.
In: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa. Folgt der Kritischen
Ausgabe der Werke von Franz Kafka. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am
Main 1996, S. 248ff.
[11] Anmerkung: »Eden« ist ein Anagramm von »Ende«. Aber das muß nichts heißen.
[12] Genesis 3, 17-19
[13] Franz Kafka: Der Proceß. S. 162
[14] Hiob 9, 15 und 9, 21-22
[15] Franz Kafka: Der Proceß. S. 223
[16] Franz Kafka: Der Proceß. S. 235