
3. Hiob
Viele Interpreten vergessen oder übersehen einen biographischen Fakt, der zwar marginal und unwesentlich erscheinen mag, es aber durchaus nicht ist: Kafkas Berührung mit zionistischen Strömungen und gelegentliche Beschäftigung mit theosophischen Anschauungen. Wenn es auch zuviel wäre, zu behaupten, er sei religiös gewesen, so kann man doch ein nüchternes und in der Auseinandersetzung mit seiner verschütteten jüdischen Identität verbundenes Interesse an alttestamentarischen, gnostischen und hermetischen Fragen nicht leugnen. Trotzdem mag es den einen oder anderen nicht wenig verwundern, wie vielfältig und tiefgreifend die Parallelen zum Theologischen sind und wie leicht es gelingt, den »Proceß« aus einer derartigen Perspektive zu deuten. Aber selbst derjenige, der sich nur laienhaft mit diesen Themen auskennt (wie ich zum Beispiel), dem wird nicht entgehen, daß die Geschichte des Josef K. an das Schicksal einer biblischen Gestalt erinnert, die – ebenso wie er – unschuldig und grundlos das Opfer einer Macht wird, die sich nicht rechtfertigt. Die Rede ist von Hiob. Da mag die Ähnlichkeit des hebräischen Namens, der auch mit Ijob oder Job übersetzt wird, mit dem Vornamen, den Kafka seiner Hauptperson gibt, noch als zufällig oder weit hergeholt gelten, die etymologische Korrespondenz spricht dafür eine um so deutlichere Sprache. Denn es sind eben jene juristischen Termini, deren sich »Der Proceß« so zahlreich bedient, die hier, an der besagten alttestamentarischen Stelle, wieder auftauchen, als da wären: das Böse, die Schuld, die Unschuld, das Recht, das Gesetz, das Urteil, das Gericht, der Richter und der Anwalt. Bevor man fortfährt und sich ins Detail vertieft, soll eine zerstückelte Rezitation des 9ten Kapitels aus dem »Buch Hiob« den Zusammenhang und die Entsprechungen veranschaulichen und erhärten. Hiob sagt:
Kein
Mensch kann Recht behalten gegen Gott!
Bekäm
er Lust mit Gott zu prozessieren,
so
würde der ihm tausend Fragen stellen,
auf
die er auch nicht eine Antwort weiß.
[...]
Er
ist’s, der Wunder tut, unzählbar viele,
so
groß, daß wir sie nicht verstehen können.
Gott
geht an mir vorbei – ich seh ihn nicht,
ich
merke nicht, wie er vorübergeht.
[...]
Ich
bin im Recht und darf mein Recht nicht fordern!
Soll
ich ihn etwa noch um Gnade bitten,
ihn,
der das Urteil schon beschlossen hat?
Selbst
wenn er sich dem Rechtsverfahren stellte –
daß
er mich hören würde, glaub ich nicht.
Er
sendet seinen Sturm und wirft mich nieder,
ganz
ohne Grund schlägt er mir viele Wunden.
[...]
Zieh
ich ihn vor Gericht? Wer lädt ihn vor?
Ich
bin im Recht, ich habe keine Schuld,
doch
was ich sage, muß mich schuldig sprechen.
Mir
ist jetzt alles gleich, drum sprech ich’s aus,
selbst
wenn ich meinen Kopf dafür riskiere:
Daß
ich im Recht bin, hilft mir nichts bei ihm;
Ob
schuldig oder nicht – er bringt mich um!
[...]
Ich
weiß es ja, Gott spricht mich doch nicht frei.
Er
will mich unbedingt für schuldig halten.
Was
hilft es, meine Unschuld zu beweisen?
[...]
In meinem Fall geht Macht vor Recht![1]
Das spricht für sich, das braucht nicht großartig kommentiert zu werden, das ist selbst schon Deutung. Denn wer erkennt hier nicht in jeder Zeile den »Proceß« und seine Themen wieder? Im Gegensatz zu Kafkas Vision und Fiktion besteht an dieser Stelle kein Zweifel darüber, wer gemeint ist, wer der Ankläger ist, der den Unschuldigen unbedingt für schuldig hält, und wer der Richter, der das Urteil bereits beschlossen hat. Doch auch hier bleibt die Anklage geheim, das Gericht verborgen, der Richter unerreichbar und unsichtbar: Gott rechtfertigt sich nicht und sein Wissen und das Ausmaß des göttlichen Planes müssen die Einsicht und den Verstand des Menschen übersteigen.
Gott ist so groß, daß wir ihn
nicht begreifen,
und seiner Jahre Zahl ist unergründbar.[2]
Da haben wir das Paradox des Gerichtes im Roman: die große, allgegenwärtige Organisation und ihre gleichzeitige Immaterialität und Unerkennbarkeit. Das bedeutet – übertragen und zugespitzt: im »Proceß« werden Pantheismus und Atheismus vermischt. Gott ist überall und nirgends. Wobei die Verneinung der Existenz Gottes (bzw. die Möglichkeit sie zu leugnen) hier auf der Unzulänglichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens beruht. Die Perspektive der prinzipiellen Unwissenheit und die skeptische Position ist in beiden Fällen identisch: ob es tatsächlich eine Anklage gibt, bleibt ungeklärt; nur die Folgen, die das Gericht bzw. der eine Gott zeitigt, lassen darauf schließen. Weder das Gericht, noch der göttliche Wille geben sich zu erkennen oder legen Rechenschaft ab – allein die Äußerung der Macht deutet auf sie hin. Aber nicht nur die Unwissenheit haben Josef K. und Hiob gemeinsam, sondern auch den Mut, die Ungerechtigkeit nicht hinzunehmen, sie zu hinterfragen und die Stimme zu erheben, um ihrerseits Mißstand und Irrtum – denn was kann es anderes sein? – anzuklagen, was, wie sich zeigt, weder der Sache des einen, noch der des anderen förderlich ist – im Gegenteil. Die Beteuerung der Unschuld führt jeweils lediglich zur Verschlimmerung der Lage, da sie als charakteristisches und stereotypisches Verhalten des Schuldigen aufgefaßt wird: »Ich bin aber nicht schuldig«, sagte K. »Es ist ein Irrtum. [...]« »Das ist richtig«, sagte der Geistliche, »aber so pflegen die Schuldigen zu reden.«[3] Und zu Hiob sagt, was angeblich sein Freund sein will:
Es ist die Schuld, die dich so
reden läßt,
auch wenn du sie mit schlauen
Worten leugnest.
Dein eigener Mund verurteilt dich,
nicht ich;
du selbst belastest dich mit jedem
Wort.[4]
Die Rede Hiobs mag wiederum Aufschluß geben über die zum Ende hin unaufhaltsam voranschreitende Ermattung K.’s und die unerklärliche Ergebenheit und Widerstandslosigkeit gegenüber seinen Scharfrichtern:
Mir wär es lieber, wenn du mich
erwürgtest;
Der Tod ist besser als ein solches
Leben!
Ich bin es satt, ich mag nicht
weiter kämpfen.
Mein ganzes Leben ist doch ohne
Sinn.[5]
Vielleicht erkennt man in diesen Worten auch bereits den Pessimismus, den tendenziellen Nihilismus und die immanente Sinn- und Hoffnungslosigkeit wieder, die zur Beschreibung der Stimmung und der Haltung des Romans gern herangezogen werden, vielleicht sogar den Suizidgedanken, der im »Prozeß« zweifach thematisiert wird.
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[1] Die Bibel in heutigem Deutsch. Deutsche Bibelgesellschaft: Stuttgart 1982, Hiob 9
[2] Hiob 36, 26
[3] Franz Kafka: Der Proceß. Roman, in der Fassung der Handschrift. 8. Auflage.
Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main 1994, S. 223
[4] Hiob 15, 4
[5] Hiob 7, 15-16