
2. Was hat es zu bedeuten?
Bereits der Titel des Buches, welches es zu besprechen gilt, erweist sich als amphibolisch und homonym. Denn er kann entweder konkret den Rechtsstreit und die Gerichtsverhandlung, oder allgemein einen Vorgang und eine Entwicklung meinen, und, obwohl er im Roman gemeinsam mit vielen weiteren juristischen Termini gebraucht wird (Schuld, Gesetz, Gericht, Anklage, Urteil usw.), muß die juristische Bedeutung nicht durchaus die zwingendere sein. Vielmehr ist dieser auffällige, vordergründige, der Jurisprudenz entliehene Jargon der Mantel und die Verkleidung dessen, was eigentlich gemeint ist, und all diese Begriffe sind nichts als Stellvertreter. Ein Indiz, das dafür spricht, ist, daß Josef K., um dessen Schicksal es hier geht, etwas, das einer Verhandlung gleichkommt und einem ordentlichen Gericht ansatzweise ähnelt, gar nicht teilhaftig wird. Es wird lediglich davon geredet, es werden Andeutungen gemacht, es wird spekuliert und gemutmaßt. Aber: wer das wörtlich versteht, der dümpelt nur an der Oberfläche des kafkaesken Gleichnisses, ohne es anzukratzen, geschweige denn zu ergründen. Manch einer deutet dann den »Proceß« als Kritik an der Willkürherrschaft, an reaktionären, despotischen und totalitären Systemen, in deren exekutiven Mühlen der Mensch grundlos und schuldlos verhaftet, verhört, zermürbt, verurteilt und schließlich ermordet wird. Ein anderer versteht, indem er denselben Fehler begeht, den Roman als Abrechnung mit einer seelenlosen Ordnung, einem blinden, unbeirrbaren Automatismus und einer verselbständigten, unüberschaubaren Bürokratie, die den vereinsamten und auf sich allein gestellten Menschen verschlingen, demütigen, sich selbst entfremden und am Ende zugrunde richten. Dem nicht genug, wollen die einen darin den autoritären Charakter von Kafkas Vater, die anderen den fatalen Kapitalismus des frühen 20. Jahrhunderts wiedererkennen. Diese Auslegungen haben gewiß ihre Berechtigung und es ist nicht von der Hand zu weisen, daß eines, wie das andere bei Kafka anklingt, allerdings lassen sie sich immer und überall, egal um welche seiner Erzählungen es sich handelt, anführen, und dadurch, daß man diese banalen und abgeschmackten Sentenzen immerfort wiederkäut und abschreibt, werden sie auch nicht wahrer. Davon abgesehen gibt es noch diejenigen, die es noch nicht einmal zu einem derart bescheidenen Ansatz einer Deutung bringen, die sich mit der verwirrenden und düsteren Stimmung, mit der traumhaften und beklemmenden Atmosphäre und mit der klaren und plastischen Sprache des Buches begnügen. Spätestens hier scheidet sich dann die Liebe, die jeder für Kafka übrig hat, in gedankenlosen Genuß und den Willen die Herausforderung des Textes anzunehmen. Nehmen wir diese Herausforderung an! Stellen wir die Frage: Was hat es zu bedeuten? Was hat es zu bedeuten, daß Josef K. verhaftet wird und trotzdem frei und uneingeschränkt gehen kann, wohin er will? Was hat es zu bedeuten, daß er nicht in Erfahrung bringen kann und von niemandem erklärt bekommt, weswegen und von wem er angeklagt ist? Was hat es zu bedeuten, daß das Gericht einerseits eine große Organisation ist, von der es heißt: sie ist unendlich und überall, und andererseits läßt es sich nicht greifen, nicht ausmachen und nicht bestimmen, ob es ein schlechter Scherz oder eine wirkliche Bedrohung ist? Was hat es zu bedeuten, daß es höhere Instanzen dieses Gerichtes, hohe Richter und große Advokaten gibt, die für alle unerreichbar sich dem allgemeinen Einfluß gänzlich entziehen und über die anscheinend niemand etwas genaueres weiß – außer, daß sie existieren? Was hat es zu bedeuten, daß jede Handlung, die Josef K. aufgrund von logischen und vernünftigen Überlegungen für notwendig hält, sich als prinzipiell sinnlos oder nachteilig für ihn erweist, und umgekehrt die absurdesten Methoden als erfolgversprechend gelten? Was hat es zu bedeuten, daß K. eine totale Selbstrechtfertigung verfassen will, um damit die ungewisse Schuld auszuräumen, und von der Unmöglichkeit dieses Unternehmens erdrückt wird? Und: Was hat es zu bedeuten, daß es für den Mann vom Land quasi einen Privateingang zum Gesetz gibt? Mit diesen Fragen beginnt der »metaphysische« Teil des Lesens, wo es gilt, »hinter« den Text zu schauen, »über« ihn hinaus zu gehen und zu »ergründen«, was das Wörtliche und die Bilder, der Schein und die Schatten »an sich« meinen – meinen könnten.
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