1. Einführung

 

Wir haben es bereits vernommen: Jeder liebt Kafka. Dem, der da noch seine eigenen heimlichen und unausgesprochenen Zweifel hatte, wurde beteuert: Jeder. Denn in keinem Literaturkanon darf er fehlen und eine deutschsprachige Intelligenzbestie, die ihn nicht gelesen hat, ist undenkbar. Es ist daher wohl auch nicht zuviel gesagt, wenn man Kafkas Werk einen klassischen und obligatorischen Stellenwert in der germanistischen Literatur einräumt. Aber warum? Woher rührt die ungeheure Popularität dieses Autors, dessen "Kritzeleien" und "Stücke", wie er selbst en gros seine zum Teil fragmentarischen Erzählungen und Romane nannte, posthum und gegen den letzten Willen des Verfassers herausgegeben wurden? Woher stammt das andauernde Interesse an seiner beklemmenden, surrealistischen Erzählwelt, die, eingebettet in Bilder, Symbole, Rätsel, Fabeln, Parabeln und Paradoxien, sich kohärenten Deutungsversuchen nachdrücklich querstellt und verweigert? Anders ausgedrückt: Jeder liebt ihn und jeder, der sich die Mühe macht ihn zu verstehen (und das sind sicherlich weniger viele), deutet ihn anders. Diese Divergenz ist zwar in den hermeneutischen Wissenschaften kein unbekanntes und ungewöhnliches, eher ein allgegenwärtiges und grundsätzliches Phänomen, aber bei Kafka-Interpretationen aus naheliegenden Gründen besonders ausgeprägt. Überdies stellt man eine aus der Notdurft und Unzulänglichkeit der eigenen Ideen geborene, unverkennbare Neigung fest, die Biographie dort heranzuziehen, wo sich das Werk dem Zugang verschließt. Wie untauglich und unangebracht dieses Vorgehen sein kann, wie unbrauchbar und verfehlt bisweilen die Ergebnisse sind, die auf diesem Wege zustande kommen, zeigt sehr deutlich das Beispiel Kafkas. Aus Mangel an Kommentaren und Hinweisen des Autors, wie denn nun sein Roman oder seine Erzählung zu verstehen sei (als ob er es nötig hätte, auch diese Arbeit noch zu leisten!), versteift man sich auf die Fakten und das einzig Faktische, dessen man habhaft werden kann, ist die Biographie. Von der Biographie und den Tagebüchern schließt man dann – nicht ohne die spekulative Beihilfe der Psychologie, die aus diesen erbärmlichen Fakten, noch einige artige, objektive Erkenntnisse hervorzuzaubern weiß – auf das Seelenleben des Autors. Nachdem der arme Mensch nun auf ein oder zwei innere Konflikte, auf seine Leiden, Gewohnheiten und Neigungen und auf seine dominanten Motive reduziert worden ist, steht dem Verstehen seiner "Kritzeleien" nichts mehr im Wege, denn diese können ja nichts weiter als der verklausulierte Ausdruck dieser verborgenen und verdrängten Willensregungen sein. Die Deutung ist schließlich gelungen, wenn die Einheit und der Zusammenhang von Text und biographischem Kontext hergestellt ist. So einfach ist das. Wünscht man sich angesichts dessen nicht mehr textimmanente Interpretationen und möchte man nicht auch dem Autor ohne weiteres mehr Genialität, mehr Komplexität, mehr Vielfalt und Tiefe seiner – prinzipiell unzugänglichen – Gedankenwelt zugestehen? Außerdem gehört zu einer gehaltvollen Deutung mehr, als die Feststellung, daß es um Macht, Abhängigkeit und das Streben nach Freiheit geht oder um die Verwandlung und den Übergang von einem Zustand in den anderen, denn, daß dies bei Kafka immer wiederkehrende Variationen eines Themas sind, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es im Einzelfall ganz und gar nichts enträtselt.

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