
3. Urteil und Begründung
Es handelt sich um einen außerordentlich lesenswerten Roman, zu dem ich vieles positiv, aber fast nichts kritisch anzumerken habe. Schon die Form des Romans weiß zu gefallen, da sie eine hohe Identifikation mit der Hauptfigur schafft. Über weite Strecken ist kein Erzähler zwischengeschaltet, der dem Leser aus seiner Sicht die Geschehnisse schildert. Der Herausgeber teilt dem Leser gleich zu Beginn unter anderem mit: "Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt und lege es euch hier vor, und weiß, dass ihr mir’s danken werdet." [1]
Das, was der Leser dann zu lesen bekommt, sind Briefe des Werther, fast ausschließlich geschrieben an einen Freund namens Wilhelm. Auf diese Weise ermöglicht es Goethe seinem Werther direkt von sich zu sprechen. Gerade deshalb geht die Geschichte des Werther dem Leser nahe. Es fehlt – und das ist ein Vorteil – weitgehend die distanzierte Sichtweise eines Erzählers, der, alleine dadurch, dass er nicht denselben außergewöhnlich extremen Charakter wie Werther haben kann, sein Leiden relativiert hätte.
Da Werther sich selbst einem sehr guten Freund anvertraut, gibt er sich preis, kehrt sein Innerstes nach Außen und der Leser wird mitgerissen von einem Menschen, der aus tiefstem Herzen liebt und leidet. So erscheint das, was den Werther bewegt, viel anschaulicher und verständlicher, als wenn es durch einen Erzähler gefiltert worden wäre.
An dieser Stelle ist die Kritik anzubringen, dass gegen Ende des Romans stellenweise doch ein Erzähler auftaucht. Jedoch muss die Kritik insoweit entschärft werden, als dass es Goethe gegen Ende des Romans auch darauf ankommt, Abläufe zu zeigen, in die Werther keinen Einblick haben kann (zum Beispiel ein Gespräch zwischen Lotte und Albert), die für den Fortgang des Romans und das Verständnis des Handelns aller drei Hauptfiguren aber entscheidend sind.
Faszinierend an diesem Roman ist des weiteren Werthers stürmisches Temperament und die trotz einiger gutgemeinter Versuche fortwährende Weigerung, sich mit misslichen Realitäten zu arrangieren. Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz hat ein guter Freund meinerseits einmal eines seiner Gedichte betitelt und dieser Titel könnte sowohl für den Roman Geltung erlangen, indem man Lotte synonym mit Schatz setzte, aber eine Umformulierung des Titels trifft es noch besser: Werthers Schatz ist sein Herz!
Den Wünschen dieses Herzens folgt er kompromisslos und dies mag man (und täte man es, man wäre im Recht) durchaus als weltfremd und naiv verspotten, doch es nötigt Respekt ab. Mehr als das: sogar Bewunderung. Wessen Traum ist es nicht, ein unbedingtes Leben zu führen, dem zu folgen, was man für sich als wahr, als klar, als richtig, als tief empfunden, als rein – man nenne es wie immer man es will – erkannt hat? Wessen Traum ist es nicht, erst einmal, zumindest irgendetwas so kategorisieren zu können und nicht nur angeben zu können, was man nicht will, was einen nicht ausfüllt und nicht befriedigt?
Werther ist letztendlich ein einsamer Mensch, da er seine Standpunkte, Wünsche und Ziele niemals endgültig relativiert. Dies könnte man starrsinnig und dickköpfig schelten und hätte wiederum Recht. Der Unterschied zu vielen starrsinnigen und dickköpfigen Verhaltensmustern ist nur, dass Werther nicht all das beibehält, um Recht zu behalten, sondern weil er zutiefst daran glaubt. Das ist seine Legitimation. Er sieht beispielsweise in dem Leben am Hofe keine Alternative, weil ihn das gekünstelte Verhalten der dort versammelten Eliten, ihr Dünkel und ihre Eitelkeit abstößt. Auch der Bitte Lottes sich zu mäßigen, kann er nicht nachkommen, da dauerhaft gegen die Bedürfnisse seines Herzens zu handeln, für ihn nicht in Frage kommt.
Das Tragische, aber eben auch das Hochinteressante an diesem Roman ist, dass er aufgrund seines extremen Charakters alsbald nur verlieren kann. Werthers einzige Chance, nämlich, dass Lotte Albert seinetwegen verlässt, ist schon von Beginn an unrealistisch, wird mit der Zeit immer unrealistischer und so bleibt ihm nur sich zu verleugnen oder weiter zu leiden.
Und obwohl vom Standpunkt der Vernunft jeder zu dem Urteil kommen muss, dass Werther sich hätte mäßigen müssen, fühlt der Leser mit ihm und seinem Schicksal und diese Gefühle beim Leser zu wecken, seine emotionale Bindung zur Hauptfigur so stark werden zu lassen, das ist die eigentliche Kunst Goethes in diesem Roman.
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[1] Vorwort