
2. Charakter des Werther
Werther ist ein sehr empfindsamer Mensch. Dies wirkt sich umso mehr auf sein Denken und Handeln aus, da er nicht in der Lage ist seinem Verstand das Primat vor seinem Herzen einzuräumen. Keinesfalls ist er dumm oder unbegabt in geistigen Dingen und sie dienen ihm durchaus auch zur Erbauung, aber im Mittelpunkt seines Daseins steht die Liebe. Werther fühlt sich zu allem hingezogen, was ihm rein, ungekünstelt und damit wahrhaftig erscheint. Er zeichnet gerne, wenn auch nicht oft [1], da er sich an der reinen, ungekünstelten Natur erfreuen kann, zum Beispiel am Anblick eines Baumes oder eines rauschenden Flusses. Er nimmt tiefen Anteil am Schicksal seiner Mitmenschen, wenn ihre Sorgen und Probleme sein Herz berühren, ohne dabei auf gesellschaftliche Unterschiede zu achten. [2]
Werther ist ein leidenschaftlicher Mensch. Er ist kaum fähig, seine Leidenschaft im Zaum zu halten. Für ihn ist es im wahrsten Sinne des Sprichworts "die Leidenschaft, die seine Leiden schafft". [3] In erster Linie ist es natürlich die unerfüllbare Liebe zu Lotte, die ihn quält. Doch auch Diskussionen, in denen er eine Meinung vertritt, die tief in seinem Herzen ihren Platz hat, führt er mit großer Heftigkeit und ausschließlich von seiner Sichtwarte aus, so dass es nicht möglich ist mit ihm in der Sache einen Kompromiss zu schließen oder ihn gar zu überzeugen. Diese Diskussionen sind für ihn Herzensangelegenheiten, aber sie bereiten ihm letztendlich nur Verdruss. [4]
Werther ist ein unbedingter Mensch. Er liebt und leidet bis zur Selbstaufgabe. Er kostet die Extreme voll aus. [5] Er achtet zwar den tätigen Menschen, aber ihm selbst ist jede Form von gleichmäßig gelebter, in ruhigen Bahnen verlaufender Existenz völlig fremd. Im Nachwort des Romans steht zu lesen: "Die Liebe Werthers ist unbedingt, das heißt, sie kennt kein Gesetz außer sich selbst." So ist es.
Werther ist ein glücklich-melancholischer, psychologisch ausgedrückt ein manisch-depressiver Mensch. Das ist einer der wichtigsten Aspekte an seinem Charakter. Sein Leiden wird ja durch einen an sich glücklichen Umstand geschaffen, nämlich dadurch, dass er sich verliebt. Er ist von Zeit zu Zeit durchaus in der Lage dieses Glück auch zu empfinden. [6] Werther ist kein durchgängig leidender (obwohl, und auch das sei gesagt: Je länger er Lotte kennt, desto melancholischer wird er und desto mehr leidet er), sondern ein sehr launenhafter Mensch, der aufgrund seiner starken Empfindsamkeit und seiner Unbedingtheit fast durchgehend zwischen den Polen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt hin- und herwechselt.
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[1] Der Grund für seine seltenen Zeichnungen ist ein sehr interessanter: Es gelingt ihm oft nicht das auszudrücken, was er empfindet, so überwältigt ist er von der Natur. Ein verkürztes Zitat macht das deutlich: "wenn’s dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten; dann sehne ich mich oft und denke: ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, dass es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes! – Mein Freund! – Aber ich gehe zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen." (Reclam-Ausgabe, Seite 7, Zeile 28 ff)
Dies zeigt Werthers enorme Empfindsamkeit. Auch finden sich im Roman viele Stellen, an denen Werther seine eigenen Beschreibungen als nicht treffend ansieht und diese seine Ansicht der Beschreibung beifügt, um sie zu relativieren.
Darüber hinaus ist das Problem des Künstlers, einen zunächst einmal ihn selbst zufriedenstellenden Ausdruck zu finden, sicherlich ein zeitloses Problem.
[2] So empfindet er, um nur ein Beispiel zu nennen, innig mit einem Bauernburschen, der ihm von seiner Herrin, einer alleinstehenden Witwe, erzählt, in die er sich verliebt habe, die aber seine Liebe unerwidert lasse, da sie nach dem Tode ihres ersten Mannes nicht mehr heiraten wolle. (Seite 19, Zeile 4 ff)
[3] Habe leider keine Ahnung, von wem dieses schöne Sprichwort ursprünglich stammt.
[4] Werther ist kein Mensch von gemeiner Art. Gerade deshalb bereiten ihm diese Diskussionen nur Verdruss. Er kann mit seinen Standpunkten (z.B. Verteidigung des Selbstmordes als nicht an sich lasterhafte Handlung gegenüber Albert, Seite 52, Zeile 24 ff) niemanden überzeugen, da er es meist mit Menschen zu tun hat, die ihrem Verstand das Primat vor ihrem Herzen einräumen (Lotte, Albert, Amtmann) und nicht völlig unbedingt jede Handlung rechtfertigen, die aus tief empfundener Leidenschaft entspringt.
[5] Eine sehr gute Charakterisierung dieses Aspektes findet sich in einem Gespräch zwischen Lotte und Werther, als dieser wieder in die Stadt zurückgekehrt ist. Lotte will ihn dazu bringen, sie nicht mehr so häufig zu besuchen und Werther begegnet diesem Ansinnen, indem er sagt, er werde Lotte nicht wiedersehen. Darauf Lotte: "Sie können, Sie müssen uns wiedersehen, nur mäßigen Sie sich. O, warum mussten Sie mit dieser Heftigkeit, dieser unbezwinglich haftenden Leidenschaft für alles, was Sie einmal anfassen, geboren werden!" (Seite 126, Zeile 18 ff)
[6] Dies gilt vor allem für den Beginn der Beziehung zwischen Lotte und Werther. Obwohl Werther schon vor der Begegnung mit Lotte erfährt, dass sie vergeben ist, verliebt er sich in sie. Er ist lange in der Lage, Alberts nahende Rückkehr zu verdrängen und von Lotte zu schwärmen. Als Beleg habe ich aus der Vielzahl der Schwärmereien eine herausgegriffen: "Einen Engel! – Pfui! das sagt jeder von der Seinigen, nicht wahr? Und doch bin ich nicht imstande, dir zu sagen, wie sie vollkommen ist, warum sie vollkommen ist; genug, sie hat all meinen Sinn gefangen genommen." (Seite 20, Zeile 21 ff)