2. Wiederkehr und Kontrast

 

Die »Leiden des jungen Werther« teilen sich in zwei Bücher. Die Geschehnisse des ersten Buches werden gern Goethes Bekanntschaft mit Charlotte Buff und ihrem Verlobten Johann Christian Kestner zugeschrieben. Die Geschehnisse des zweiten Buches dagegen sollen durch den Selbstmord von Carl Wilhelm Jerusalem, den Goethe flüchtig kannte, inspiriert worden sein. Kestner hatte ihm einen ausführlichen Bericht über die Umstände seines Todes und die mehr oder weniger bekannten Motive und biographischen Hintergründe geliefert. Goethe hat später einige Passagen daraus für den Schluss seines Buches teilweise sinngemäß, teilweise wortwörtlich übernommen. Kestner war es auch, der Jerusalem »zu einer vorhabenden Reise« die Pistolen lieh, die er dann benutzte sich das Leben zu nehmen.

Es gibt eine ganze Reihe weiterer Motive und Details des Romans, die sich belegen und auf wahre Begebenheiten zurückführen lassen. Das im einzelnen wiederzukäuen, will ich jedoch dringlichst vermeiden. Denn es dient nicht zur Würdigung der eigentlichen künstlerischen Leistung, die hier vollbracht wurde. Viel interessanter erscheint es mir, zu untersuchen, wie die unterschiedlichen Stoffe zu einem abgeschlossenen Ganzen zusammengefügt, wie durch die Komposition das eine untrennbar mit dem anderen verwoben, wie Erlebnisse und Erfahrung durch Erfindung noch gesteigert, noch erhöht werden konnten. Betrachtet man den Roman nämlich unter diesem Aspekt, erkennt man zahlreiche wiederkehrende Momente, die einerseits die beiden Teile des Buches verbinden und sie andererseits kontrastieren.

Das bedeutsamste dieser wiederkehrenden, kontrastierenden Momente ist zweifelsohne die große, lebendige Kulisse, die den gesamten Roman dominiert, die zum Konkavspiegel für Werthers aufgewühltes Seelenleben wird und maßgeblich die Zuspitzung der dramatischen Stimmung mitträgt, die man beim Lesen empfindet. Zu Beginn erleben wir einen angesichts der Naturerscheinungen verzückten Werther, einen Liebenden, der sinnestrunken durch den Frühling taumelt und sich ganz seinen Empfindungen hingibt. Das Idyll dauert von Anfang Mai bis Ende Juli. Dann kehrt Albert zurück und kurze Zeit später beginnt Werthers Glück sich in Elend zu verwandeln: »Das volle, warme Gefühl meines Herzens an der lebendigen Natur, das mich mit so vieler Wonne überströmte, das rings umher die Welt mir zu einem Paradiese schuf, wird mir jetzt zu einem unerträglichen Peiniger, zu einem quälenden Geist, der mich auf allen Wegen verfolgt.« [1] Im zweiten Teil des Buches wird der Frühling quasi übergangenen, die idyllischen Monate des Vorjahres erleben keine Renaissance. Mit gerade vier Seiten wird der Zeitraum Mai bis Juli überbrückt. Erst mit Beginn des Herbstes setzen die wirkungsvollen Naturbilder wieder ein und wieder korrespondieren sie mit dem Innenleben des Ich-Erzählers. Aber das hat sich gewandelt: »Wie sich die Natur zum Herbste neigt, wird es Herbst in mir und um mich her.« [2] Die pantheistische Passion ist zu ende, die Natur ist jetzt nichts weiter als »ein lackiertes Bildchen«. Dann verschlechtert sich auch Werthers Zustand zusehends, der Winter bricht an und wieder scheint die Jahreszeit am besten seine Stimmung, seine fortschreitende Zerrüttung und Selbstzerstörung zu reflektieren: »Manchmal ergreift mich’s; es ist nicht Angst, nicht Begier – es ist ein inneres, unbekanntes Toben, das meine Brust zu zerreißen droht, das mir die Gurgel zupreßt! Wehe! wehe! und dann schweife ich umher in den furchtbaren nächtlichen Szenen dieser menschenfeindlichen Jahreszeit.« [3] Synchron zu Werthers seelischer Verfassung verändert sich also auch das Bild der Natur und ihre Bedeutung: im ersten Buch repräsentiert sie ein idyllisches Glück, eine Seligkeit, in die Werther ganz versunken ist, dem werden im zweiten Buch Naturgewalt und Zerstörungskraft entgegengesetzt, die seine Verzweiflung und seine düsteren Absichten versinnbildlichen.

Im ersten Teil der »Leiden des jungen Werther« finden wir noch eine Vielzahl von schönen und harmonischen Situationen, die dann im zweiten Teil zerstört und in ihr Gegenteil verkehrt werden:

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[1] Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 51 (Brief vom 18. August 1771)

[2] Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 76 (Brief vom 4. September 1772)

[3] Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 98 (Brief vom 12. Dezember 1772)

[4] Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 39 (Brief vom 16. Julius 1771)

[5] Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 37 (Brief vom 10. Julius 1771)

[6] Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 82 (Brief vom 12. Oktober 1772)