1. Würdigung

 

Ein schrecklich schönes, ein schauerlich schönes Stück Literatur ist das! Wie habe ich mich getäuscht, als ich mit bangen Erwartungen herangegangen bin, durch dieses Buch mein subtiles Vorurteil, es würde wahrscheinlich eine recht langweilige Angelegenheit werden, und meine bisherige Abneigung gegen den Verfasser bestätigt zu finden! Eine heilige Autorität, eine Eminenz wie »Der größte Dichter aller Zeiten«, ist aber auch geradezu eine Einladung an die Jugend, zu rebellieren und allen »dogmatischen Drahtpuppen«, die ihren Eid auf Lehrplan und Klassikerkanon geschworen haben, mit einem gehörigen Maß an Argwohn und Trotz zu begegnen. Doch anstatt meinen Sinn für immer zu verschließen und nie wieder anzurühren, was mir durch herablassende Bevormundung verleidet wurde, überwand ich mich und unterzog mein voreiliges Urteil einer kritischen Prüfung, der es nicht standhalten konnte, und also fällt es mir nicht schwer, einzugestehen: ich habe mich geirrt!

Auf den ersten Blick muss sich ein Umfang von rund hundertzwanzig Taschenbuchseiten als etwas wenig, als eher bescheiden und recht dünn ausnehmen für ein Buch, das so viel Beachtung gefunden hat. Aber es zeigt sich bald, dass in diesem Roman mehr Gefühl, mehr Leidenschaft und Leben stecken, mehr Kunstverstand, Ideenreichtum, Menschenkenntnis und Erfahrung als in manch anderem Buch, das fünfhundert Seiten oder mehr umfasst. Auch wenn die schwärmerische Emotionalität, das kontemplative Naturerlebnis und die bis ins Religiöse, ins Unendliche, ins Krankhafte gesteigerte Liebe, die sich darin ausdrücken, den Leser nicht mehr hinreißen werden wie zu Zeiten des »Sturm und Drang«, das Gefühl, welches sich durch das Buch zieht wie eine Erzader tief durch einen Berg, dieses Gefühl der Entfremdung, des Entwurzeltseins, des Nicht-Dazugehörens, diese verwunderliche Haltlosigkeit in der Welt, diese innere Rebellion gegen Einschränkung und Fremdbestimmung muss jede neue junge Generation, die dafür empfindsam genug ist, gefangen nehmen! Ich glaube, gerade darin besteht ein moderner und eigentümlicher Reiz des Buches, der unter denjenigen, die ihren Platz im Leben noch nicht gefunden haben, zu einer Identifikation mit dem jungen Menschen, um dessen Innenleben es hier in der Hauptsache geht, führen dürfte.

Bevor man aber die »Leiden« des jungen Mannes einer konkreteren Analyse unterwirft, sollte man unbedingt ein Wort zur Sprache des Romans verlieren! Denn sie ist es vor allem, die seine besondere Wirkung hervorruft, und dem haben auch zweihundert Jahre nichts anhaben können. Sie ist Kraft und Klang, sie ist Gefühl und Überschwang. Sie lebt und leuchtet und bricht besonders in den Momenten, in denen Werther von der Natur und den Eindrücken seiner bis zum Unerträglichen erweiterten Sinne überwältigt wird, in Poesie und Rhythmus aus. Über diese Höhepunkte hinaus, gelangt der empfindsame Held mehr als einmal an einen toten Punkt, an dem er hilflos erkennen muss, dass es für die Flut und Fülle der Erscheinungen kein Ausdrucksmittel gibt, dass von der Unermeßlichkeit nur eine Ahnung übrig bleibt, weil Kunst und Sprache ihrer nicht gewachsen sind: »Ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, [...]! Aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.« [1] Was für ein gewitzter Schachzug des Autors! Erst schöpft er aus dem Vollen seiner künstlerischen Mittel und Fähigkeiten und setzt dann wie aus Verzweiflung hinzu: es ginge nicht. »Noch nie war ich glücklicher, noch nie war meine Empfindung an der Natur [...] voller und inniger, und doch – Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, meine vorstellende Kraft ist so schwach, alles schwimmt und schwankt so vor meiner Seele, daß ich keinen Umriß packen kann;« [2]Bei Werther stellt sich »das quälende Bewusstsein« ein, »dieses Glück nicht mitteilen und also nicht verallgemeinern zu können. Was – ›so voll, so warm‹ – Besitz der Erfahrung ist, bleibt rein private, exaltierte Empfindsamkeit, die, anstatt gesellschaftliche Energie zu werden, den einzelnen von der Gesellschaft isoliert.« [3]

Im Grunde ist der Kern der Handlung trivial und in drei Sätzen erzählt: ein junger Mann (Werther) verliebt sich in ein Mädchen (Charlotte, kurz: Lotte), die für ihn unerreichbar bleibt, da sie bereits einem anderen (Albert) versprochen ist. Unfähig, sich ihrer Gegenwart zu entziehen, leidet er heftig unter der heimlichen Liebe zu ihr und endet den nach einiger Zeit unerträglich gewordenen Liebeskummer, indem er sich selbst das Leben nimmt. Doch drei Qualitäten zeichnen diesen Roman vor anderen, denen ein ähnlicher Plot zugrunde liegt, aus: die großartige Charakterisierung des Protagonisten, die Entwicklung, die er durchlebt, und die Tragik, zu der sich die Erzählung schließlich steigert. Wenn man es recht bedenkt, bilden hier die äußeren Handlungen und Ereignisse lediglich den Rahmen zu der Erzählung, eigentlich interessant und spannend wird sie durch das, was sich im Inneren ereignet. So legt auch die treffendste Inhaltsangabe, in der Goethe mit seinen eigenen Worten das Entscheidende zusammenfasst, mehr wert auf die Introspektive: »Eine Geschichte [...], darin ich einen jungen Menschen darstelle, der, mit einer tiefen reinen Empfindung und wahrer Penetration begabt, sich in schwärmende Träume verliert, sich durch Speculation untergräbt, bis er zuletzt durch dazutretende unglückliche Leidenschaften, besonders eine endlose Liebe zerrüttet, sich eine Kugel vor den Kopf schießt.« [4]

Die Quellen und historischen Dokumente lassen auch keinen Zweifel daran, dass es ein Buch ist, das mit Blut geschrieben wurde. Vielleicht konnte Goethe hier und da einige Ereignisse und Begebenheiten adaptieren, um damit die Erzählung zu bereichern, aber die Leidenschaft, das tiefe Gefühl, die sich darin ausdrücken und zu Melancholie und Verzweiflung verkehren, das lässt sich weder übernehmen, noch erfinden. Nein, dieses Buch zu schreiben, war für ihn Therapie, Selbstheilung und Befreiung: »ich hatte mich durch diese Komposition, mehr als durch jede andere, aus einem stürmischen Elemente gerettet, [...]. Ich fühlte mich wie nach einer Generalbeichte, wieder froh und frei, und zu neuem Leben berechtigt.« [5] Dann wollte er das Buch am liebsten vergessen, vermied es strikt darin zu lesen und geriet leicht in eine ärgerliche bald melancholische Stimmung, wenn man ihn darauf ansprach, wenn man wieder und wieder nur wissen wollte, was denn daran »wahr« sei. Selbst fünfzig Jahre später ist ihm sein »Werther« immer noch eine Bedrohung seines Seelenfriedens: »Das ist auch so ein Geschöpf, das ich gleich dem Pelikan mit dem Blute meines eigenen Herzens gefüttert habe ... Es sind lauter Brandraketen! Es wird mir unheimlich dabei, und ich fürchte, den pathologischen Zustand wieder nachzuempfinden, aus dem es hervorging ... Ich hatte gelebt, geliebt und sehr viel gelitten!« [6]

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[1] Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 9 (Brief vom 4. Mai 1771).

München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2001

[2] Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 40f (Brief vom 24. Julius 1771).

[3] http://www.zum.de/Faecher/D/Saar/gym/goethe/werther/wertherpr.htm

[4] Goethe: Die Leiden des jungen Werther, Anhang, S. 135 (Goethe an G. F. E. Schönborn, 1. Juni 1774)

[5] Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Wahrheit, 3. Teil, 13. Buch

[6] Goethe: Die Leiden des jungen Werther, Anhang, S. 150 (Gespräch mit Eckermann, 2. Januar 1824)