Der Proceß als Spiegel Freudscher Persönlichkeitskonflikte

immun gegen jede Kritik!?

 

Schon deinem ersten Gedankengang stehe ich skeptisch gegenüber. Natürlich ist die phasenweise vorhandene surreale Atmosphäre des Buches nicht von der Hand zu weisen. Doch der Plot enthält, wie du selber sagst, viele realitätsbezogene Aspekte. Diese realitätsbezogenen Aspekte sind beileibe nicht nur für einen Traum typisch und sie sind sogar stark genug um K. glauben zu machen, er befinde sich in seiner Alltagswelt. Die phasenweise vorhandene surreale Atmosphäre eines Gedichtes, einer Novelle, eines Romans müssen nicht zwingend den Schluss nach sich ziehen, das geschilderte Geschehen spiele sich in einer imaginierten Traumwelt ab. Beispielsweise erschien mir der Roman Der Garten Eden von Ernest Hemingway auch in einigen Passagen höchst surreal, doch lässt die Handlung diesen Schluss ganz und gar nicht valide erscheinen. Auch Kafkas Erzählungen Auf der Galerie oder Die Verwandlung müssten demnach in einer Traumwelt spielen. Die Kunst von Literatur ist es jedoch - und das will ich dir von meinem persönlichen Standpunkt aus entgegenhalten - nicht gleichförmig ein Geschehen zu schildern, sondern das geschilderte Geschehen besonders erscheinen zu lassen, erzählenswert nämlich. Dazu ist es notwendig, von klischeehaft verbreiteten Vorstellungen abzurücken. Die Wahl der Mittel steht dem Autor zur Verfügung. Sobald er sich Mitteln bedient, welche phasenweise eine surreale Atmosphäre schaffen, nun gleich auf eine imaginierte Traumwelt zu schließen, ist zumindest fragwürdig, denn ebenso valide wäre es zu behaupten, das der Autor nur von klischeehaft verbreiteten Vorstellungen abweichen wollte, um ein erzählenswertes Geschehen zu schaffen und/oder das die starke Abweichung von eben diesen Vorstellungen deshalb so stark ist, damit sie ins Auge springt und der Leser Rückdeutungen auf die eigene Alltagswelt vornimmt.

Doch abgesehen von diesem meinem - vielleicht nur marginalen - persönlichen Standpunkt, habe ich auch einen logischen Widerspruch entdeckt. Wie kann beispielsweise das Geschehen in einer Traumwelt spielen, in der die Gesetze der Logik und Konvention außer Kraft gesetzt sind, obwohl die realitätsbezogenen Aspekte des Geschehens so stark sind? Ergeben die realitätsbezogenen Aspekte sich nicht aus dem Zusammenspiel von Logik und Konvention?

Ferner: Was ist eine metaphysische Sinnkrise? Damit kann ich gar nichts anfangen.

Warum ist der dreißigste Geburtstag ein Bruch, und als solcher geradezu prädestiniert für metaphysische Sinnkrisen? Du hast in diesem Zusammenhag von Empirie gesprochen. Auf welche empirischen Ergebnisse stützt du dich bei dieser Behauptung?

Was ist eine Nahtoderfahrung? Ich habe eine laienhafte Vorstellung (eine Berührung/Ahnung des eigenen Todes?), doch eigentlich kann ich auch mit diesem Begriff nichts anfangen.

Auch mit der imaginierten Gerichtssituation durch sein (K"s) Unbewusstes habe ich so meine Schwierigkeiten. Natürlich ist dieser Schluss möglich, jedoch ist er faktisch nicht nachweisbar. Diese Kritik soll generell für dein gesamtes Essay gelten. Da du nicht nachweisen kannst, das K. die Gerichtssituation durch sein Unbewusstes heraufbeschwört (dies ist keine Kritik an deiner Person, sondern ich will auf die Unmöglichkeit hinweisen, das Unbewusste faktisch greifbar zu machen), kehrt sich die Beweislast um und ich muss nachweisen, sofern ich mich nicht an der Spekulation beteiligen will, das es nicht so ist. Dies kann ich natürlich genauso wenig. Denn eine Argumentation, die sich auf das Unbewusste stützt, ist immun gegen jede Kritik außer gegen die, das die Kennzeichnung und Erfassung des Unbewussten ein sehr gewagter Akt ist und in seinem Wesen spekulativ sein muss. Mich hat deine Behauptung bezüglich des Unbewussten stark an die Kritik erinnert, die ich nach wie vor an die Theorie des Rational Choice richte. Ein einfaches, aber treffendes Beispiel: Ein Mann steht vor der Wahl, ein illegales Handels-Geschäft abzuschließen, das ihm viel Geld, oder, wenn es schief geht, viel Ärger mit der Justiz einbringen wird.

Fall 1: Er schließt das Geschäft ab. Was war das dann? Ganz klar, eine rationale Wahlhandlung. Die Werte (viel Geld) überstiegen für den Mann die Kosten (eventueller Ärger mit der Justiz).

Fall 2: Er schließt das Geschäft nicht ab. Was war denn das dann? Ganz klar, eine rationale Wahlhandlung. Erste Werte (auf keinen Fall Ärger mit der Justiz) überstiegen für den Mann die letzteren Werte (viel Geld).

So ähnlich ging es mir bei deiner Behauptung auch. Das Unbewusste heranzuziehen ist meiner Meinung nach wie das Sprechen über Alles oder Nichts. Es findet keine Spezifizierung statt, die falsifizierbar wäre. Das Gleiche trifft für die Theorie Freuds zu, welche du in Kurzform wiedergegeben hast. Auch sie ist nicht falsifizierbar und ist im Nachhinein immer anwendbar.

Da ich mich aus den genannten Gründen außerstande sah, Kritik an deinem Ansatz zu formulieren, habe ich mir dann einfach gedacht, das ich mich auf deine Spekulation einlasse und deinen Ansatz akzeptiere, um dann zu prüfen, inwieweit er und die sich aus ihm ergebenden Gedankengänge dem Buch gerecht werden.

Hier meine Ergebnisse: Du schreibst, das K"s Ablehnung bestimmter Triebe so stark ist, das er sie nicht nur auf andere projiziert, sondern sogar die Anderen zum Zwecke der Projektion erschafft.

Welche Triebe lehnt K. so stark ab? Kennzeichne sie bitte mal. Die 4 von dir in der Darstellung von Freuds Theorie benannten Triebe Sex, Aggression, Hunger und Selbsterhaltung kann ich im Buche bei den anderen Personen nur am Rande entdecken. Natürlich kann der Ausbruch des Geistlichen im Dom ("Siehst du denn nicht zwei Schritte weit") als Aggression gewertet werden, die K. wiederum ablehnt, weshalb er den Geistlichen erschaffen hat zum Zwecke der Projektion seiner Ablehnung. Aber ist dafür die Parabel Vor dem Gesetz notwendig? Ist es dafür notwendig, den Geistlichen über Sinn und Unsinn der Parabel und des Gerichtes sprechen zu lassen? Ich finde, du unterschlägst in deiner Deutung, da du sie auf K"s Selbst einschränkst, einige wichtige Aspekte.

Das machtvolle Über-Ich in der repressiven Gesellschaftsnorm mag ich - korresponierend zu meiner Deutung - schon eher erkennen, zum Beispiel in der Person des Geistlichen oder in der des Advokaten. Jedoch ist es natürlich vertrackt von der Verinnerlichung der gesellschaftlichen Werte und Normen zu sprechen, da auch diese Werte und Normen schwer greifbar und schwer zu kennzeichnen sind. Diese Kritik ist auch Selbstkritik, gilt auch für mein Essay.

Wenn du die Triebe gekennzeichnet hast, die K. so sehr ablehnt, so erledigt sich meine nächste Frage, nämlich aufgrund welcher unterdrückter Triebe K"s Es revoltieren sollte? Die Beispiele für Es und Über-Ich, die du gewählt hast, halte ich  übrigens für äußerst dürftig. Vor allem, wenn man sie in den Kontext des Buches stellt. Fräulein Bürstner als  Personifikation der Neugier zu bezeichnen ist sehr gewagt. Sie interessiert sich später nicht weiter für K"s Sache, sie verweigert ihm den dargebotenen Handschlag, sie schlägt später eine Unterredung mit ihm aus und hilft ihm in keinster Weise aus eigenem Engagement, welches ja meist gerade durch Neugierde geweckt wird. Auch weiß ich nicht, warum ein sehr großer Wächter gleich fürs Über-Ich stehen muss und ein Wächter, der ein Frühstück isst, fürs Es.

Verstehe mich nicht falsch. Das kann alles sein. Aber ich finde, hier offenbart sich ein weiteres Defizit deines Essays, nämlich der Mangel an Beispielen aus wirklich bedeutenden Textstellen. Gut, über bedeutend können wir streiten, aber wenn du schon deine Beispiele aus einer Frühstückssituation oder einem Gespräch mit der Nachbarin rekrutierst, so muss wenigstens die Quantität stimmen, um eine einigermaßen überzeugende Validität nachzuweisen. Die weiteren Schlüsse, welche du gezogen hast, haben mich zwar eher überzeugt (K. wird sein eigener Richter, weil er nicht den Zweikampf seines Selbst erkennt, kann mit keinem zusammenarbeiten, verdammt sich selbst), jedoch gelingt es den Henkern nicht (nur) durch das Auftauchen der Frau, K. zu überwältigen. Zitat: "Das Fräulein war inzwischen in eine Seitengasse eingebogen, aber K. konnte sie schon entbehren und überließ sich seinen Begleitern. Alle drei zogen nun in vollem Einverständnis über eine Brücke im Mondschein, jeder kleinen Bewegung, die. Machte, gaben die Herren jetzt bereitwillig nach, als er ein wenig zum Geländer sich wendete, drehten auch sie in ganzer Front dorthin."

Dies schwächt wiederum deinen Schluss, an dem ich außerdem nicht nachvollziehen kann, das sich das Es und das Über-Ich nun anscheinend verselbstständigt haben und dass die Selbsterkenntnis K"s (Zitat: "Soll ich nun zeigen, dass nicht einmal der einjährige Prozeß mich belehren konnte? Soll ich als ein begriffsstutziger Mensch abgehen? Soll man mir nachsagen dürfen, dass ich am Anfang des Prozesses ihn beenden wollte und jetzt, an seinem Ende, ihn wieder beginnen will? Ich will nicht, dass man das sagt. Ich bin dankbar, dass man mir auf diesem Weg diese halbstummen, verständnislosen Herren mitgegeben hat und dass man es mir überlassen hat, mir selbst das Notwendige zu sagen?") in deiner Deutung außen vor bleibt.

Zurück  |  Kritisieren & Diskutieren  |  Mail  |  About Mirko