
3. Die Zusammenführung von
Niklas Luhmanns Systemtheorie und Franz Kafkas Roman Der Proceß
Ich habe
lange überlegt, ob an diese Stelle eine Inhaltsangabe des Romanes gehört. Ich
habe mich nach mehreren Versuchen dagegen entschieden, da es mir nicht gelungen
ist, kurz, knapp und präzise den Inhalt des Buches wiederzugeben (zu viel
erschien mir wichtig). Dennoch möchte ich hiermit eine Debatte bezüglich der
Frage aufwerfen, ob in ein Essay zu einem Buch, das alle schon gelesen haben, überhaupt
eine Inhaltsangabe gehört. Mir war jedenfalls nicht wohl dabei, daher habe ich
meine wieder gelöscht. Ich bin jedoch gespannt auf eure Meinungen.
Und nun mein Deutungsansatz....
Der Prozeß ist für mich eine düstere Zukunftsvision, die
eine Gesellschaft voller reiner
Funktionsträger in sich weitgehend selbst steuernden Systemen (ich glaube selbstreferentiell
ist der Fachausdruck) beschreibt. Diese Gesellschaft ist offensichtlich funktionstüchtig, jedoch besteht in ihr kein gemeinsamer moralischer Wertehorizont und auch kein Diskurs
über Sinn, Zweck, Mittel und Ziele der Gesellschaft. Die Menschen sind als Systemteile fast allesamt Diener
des Systems oder aber Angeklagte des
Systems. Nur durchschaubar ist das
System nicht mehr und vor allem auch nicht mehr steuerbar. Es dient nicht
mehr dem Wohle der Menschen, sondern nur noch der eigenen Verselbstständigung.
Wenn ich am Anfang dieses Absatzes von Systemen
gesprochen habe, so meine ich, daß das im Roman beschriebene System
stellvertretend für die Herrschaft aller
Systeme zu sehen ist, schon alleine deshalb weil es namenlos bleibt und
nicht eindeutig identifizierbar ist. Es wird zwar ständig von einem Prozeß gesprochen, auch kommen Advokaten, Gerichtsdiener,
Untersuchungsrichter etc. im Roman vor, jedoch hat das alles meiner Meinung nach
nichts mit dem Rechtssystem zu tun, da
elementare Grundprinzipien des Rechtssystems
nicht beachtet werden.
Der
Roman zeigt überdeutlich welcher Verlust das ständige Zurückstehen des psychischen Programmes Mensch hinter dem
reinen Funktionsträgertum wäre, denn dadurch würde letztlich jedwede
Basis lebenswerten Zusammenlebens verloren gehen, da - wie bereits erwähnt -
kein Diskurs über Sinn, Zweck, Ziele
und Mittel der Gesellschaft mehr geführt werden könnte und kein gemeinsamer
moralischer Wertehorizont zum Wohle des Menschen entstehen könnte.
Die
besten Beispiele für reines Funktionsträgertum
sind ohne Zweifel Franz und Willem. Sie erfüllen die Aufgabe, die ihnen
aufgetragen wird, nämlich Verhaftungen vorzunehmen. Darüber hinaus reicht ihr
Horizont nicht. Sie wissen nicht, weshalb sie K. verhaften und interessieren
sich auch nicht dafür. Ihre Karriere ist ihnen jedoch wichtig, wie im Kapitel Der
Prügler eindrucksvoll beschrieben wird ("wir hatten Aussicht, vorwärtszukommen
und wären gewiß bald auch Prügler geworden wie dieser, der eben das Glück
hatte, von niemandem angezeigt worden zu sein" - ab S.94, Zeile 34). Der
Aufseher weiß noch nicht einmal, ob K. angeklagt ist oder nicht, obwohl er ihm
seine Verhaftung mitteilt. Es scheint ihnen ebenfalls nicht zu interessieren. Er
sagt, er komme nur seiner Pflicht nach und sei darüber hinaus sonst fast gänzlich
nebensächlich für K"s Angelegenheit. Dieses Muster wiederholt sich übrigens
ständig. Beständig trifft K. auf Menschen, von denen er glaubt, sie hätten
die Macht ihm zu helfen, die sich aber letztlich doch nur als reine
Funktionsträger und als machtlos entpuppen. Der Advokat als Freund des
Onkels erscheint bei seiner Einführung als vielleicht entscheidende Hilfe, doch
entpuppt er sich, obwohl er einer der großen Advokaten sein soll, als Person,
die K. in seinen Bemühungen keinen Millimeter voranbringt. Seine Eingabe wird
nie fertig, sollte sie fertig werden, so sagt er selbst, wird sie wohl nicht
gelesen werden. Seine Erzählungen von den Richtern, die man durch dieses oder
jenes Trickmanöver für sich gewinnen könnte, erweisen sich als nutzlos, denn
letztlich sind selbst diese Richter wieder keine, die K. entscheidend
weiterhelfen können. Dennoch erfüllt der Advokat die ihm im System
zugedachte Funktion als Advokat. Kein Ton davon, das er sein letztlich völlig
nutzloses und inhaltsloses Tun nicht mit seinem Gewissen, mit seinem psychischen Programm vereinbaren könnte - nichts. Ebenso
Titorelli, der Gerichtsmaler, der K. erst Hoffnung macht auf die drei Arten der
Befreiung: "die wirkliche Freisprechung, dei scheinbare Freisprechung und
die Verschleppung" (Seite 165, Zeile 27) um dann nichts weiter zu tun als
nach und nach die Hoffnungen wieder einzuschränken und schließlich ganz auszulöschen.
Ersteres könne er nicht erreichen, Zweiteres führe alsbald zur erneuten
Festnahme und Letzteres bringe regelmäßige Verhöre mit sich.
Natürlich
tauchen im Roman auch Personen auf, die nicht in direkter Verbindung zum Gericht
(zum System) stehen und denen daher reines
Funktionsträgertum nicht nachgesagt werden kann. Doch eben so wenig kann
Ihnen nachgesagt werden, das sie K. aus irgendeinem, Grunde weiter helfen würden,
das ihr psychisches Programm K. zugute
kommen würde, sei es, weil sie zu einfältig sind (Fräulein Grubach!),
weil sie nicht die Macht dazu haben (Leni) oder weil sie uninteressiert sind an
K"s Angelegenheit (Fräulein Bürstner). Leni, die sehr geheimnisvoll tut
und mehrere Andeutungen gegenüber K. macht, redet jedoch auch während des
ganzen Romanes keinen Klartext, belässt es bei vagen Andeutungen und
Geheimnistuereien. So wirkt selbst ihre Zuneigung schal und wertlos wie auch die
Zuneigung der Sekretärin bei Gericht bei der Ersten Untersuchung. Es existiert
im Roman überhaupt keine Person, die aufgrund des Menschen Josef K. so handelt,
das sie ihm eine Hilfe wäre. Es herrschen reine
Funktionsträger die teilweise von der Faszination des undurchschaubaren
Systems in Bann gezogen zu sein scheinen, wie beispielsweise der Gerichtsmaler
Titorelli.
Was
den Aspekt angeht, das das System sich
weitgehend selbst steuern, so muss natürlich zugegeben werden, das das System
nicht völlig selbstreferentiell sein kann, da es noch menschliche Funktionsträger
benötigt um sich selbst seine Macht zu sichern. Aber - und das ist das
Interessante - etwas scheinbar Lebloses scheint in diesem Roman lebendig zu
werden, Gestalt anzunehmen und ständig als Bedrohung über allen Köpfen zu
schweben. Das Gericht, von dem ständig gesprochen wird, ist schon etwas
Weihevolles, etwas, das Erschaudern lässt, dem man Ehrfurcht entgegenbringt,
wenngleich keiner die höchsten Instanzen des Gerichtes oder gar die höchste
Instanz kennt. Gerade diese Tatsache, das es nämlich nicht möglich ist, über das
Gericht (das System) Gewißheit zu erlangen sichert diesem seinen hohen
Status und seine Macht, zum Beispiel durch Legendenbildung, über die Menschen.
Daher hat man auch während des ganzen Romanes nicht das Gefühl, als hätte
irgendeiner der beschriebenen Menschen eine Möglichkeit der Einflußnahme -
weil es eben unmöglich geworden ist, Gewißheit über die vollständigen
System - Codes zu erlangen.
Daß
in einer solchen Gesellschaft jeglicher gemeinsamer
moralischer Wertehorizont fehlen würde, lässt sich an dem Schicksal
K"s sehr gut nachvollziehen.
K. gleicht nach seinem anfänglichen naiven Idealismus (siehe Kapitel Erste
Untersuchung) einer
Kalkulationsmaschine, die sich nur noch ständig seine Beeinflussungschancen
bestimmter angeblich gewichtiger Persönlichkeiten errechnet. Auf die Idee einer
mit anderen Angeklagten gemeinsam durchgeführten
Systemirritation kommt er gar nicht erst, da er viel zu sehr mit seiner
eigenen Sache, seinem eigenen Schicksal beschäftigt ist. Er will nur hinter die
gesamten System - Codes kommen, um zu verstehen, nach welchen Regeln das
Spiel gespielt wird, welches ihn zum Spielball gemacht hat. Sein Tod in dieser
vom reinen Funktionsträgertum beherrschten
Welt ist folgerichtig, da er nicht mehr auf die Mithilfe anderer psychischer
Programme rechnen konnte, da deren Entmündigung bereits zu weit
fortgeschritten ist.
Zurück | Kritisieren & Diskutieren | Mail | About Mirko