
4. Kritische Anmerkungen
Dass »Die Leiden des jungen Werther« ein Klassiker, ein Genie- und Meisterwerk sind, steht außer Frage. Dennoch will ich hier auch einige Dinge anführen, die mir nicht so sehr gefallen haben an diesem Buch.
Zum einen hat mir die Ossian-Vorlesung am Ende des Buches doch einiges verdorben! Hier hat sich der Autor nach meinem Dafürhalten etwas zu sehr von der Mode und dem Zeitgeist leiten lassen, als er sich entschied, diese Passagen in sein Buch aufzunehmen. Mag sein, dass sie stilistisch dazu dienen, die drohende Katastrophe noch etwas hinauszuzögern, mag sein, dass sich darin Werthers eigenes Verhängnis, Stimmung und Schicksal wiederspiegeln, mag sein, dass sich hierin wieder Lottes und Werthers Empfindungen begegnen. Doch auf mich verfehlt das ganz seine Wirkung. Dafür sind mir die Passagen viel zu pathetisch und ihr Stil ist mir viel zu gedrungen und gestelzt, die Handlungsebenen viel zu verschachtelt und unzugänglich. Als moderner Leser empfinde ich diesen Einschub einfach nur als störend.
Beim ersten Lesen fällt es wahrscheinlich nicht auf, aber das Frauenbild, vornehmlich das Bild von Lotte ist insgesamt doch etwas niedlich, belanglos und oberflächlich. Schließlich ist Lotte nach Werther der zweitwichtigste Charakter – und was erfahren wir über sie? Nichts. Bis zum Ende erscheint sie uns wie ein Püppchen. Erst durch den Bericht der Herausgebers erhält sie nachträglich noch etwas Farbe, erst durch ihn erscheint ihr Charakter etwas gebrochen, etwas realistischer, erst ganz zum Schluss fängt sie an, lebendig zu werden und nicht immer nur der verherrlichte »Engel« zu sein, als den Werther sie sieht. »Einen Engel! – Pfui! das sagt jeder von der Seinigen, nicht wahr? Und doch bin ich nicht imstande, dir zu sagen, wie sie vollkommen ist, warum sie vollkommen ist; [...].« [1] Dabei verbringt er so viel Zeit mit ihr! Dabei ist er angeblich so empfindsam und talentiert! Doch, was wir durch ihn über Lotte erfahren, ist insgesamt recht mager: es beschränkt sich auf ihre alltäglichen Handlungen und ihre Aura (das ist ihre Wirkung auf Werthers Gemüt). Vollkommen? Wie langweilig! Und wer ist schon vollkommen? Wo sind die individuellen Eigenheiten dieses Mädchens? Wo sind ihre Schwächen und Grillen? Wo sind ihre Leidenschaften, Sehnsüchte, Hoffnungen und Träume? Geradezu erstaunlich ist auch, wie selten sie zu Wort kommt: am Ende des ersten Teiles, darf sie mal ein wenig über ihre verstorbene Mutter plaudern, gegen Ende des zweiten Teiles redet sie etwas auf Werther ein, um ihn zur Raison zu bringen. Ansonsten sind ihre Wortmeldungen unbedeutend, sie wirkt fast wie eine Souffleuse, die Werther an den entscheidenden Stelle das richtige Stichwort gibt, damit er in seinem ewigen Monolog fortfahren kann, und selten ist das Stichwort so vielsagend und bedeutungs-schwanger wie: »Klopstock!«
Ich habe den Verdacht, dass die Erzählperspektive des Herausgebers, der sich am Ende in die Folge der Briefe einschaltet, nicht konsistent ist. Der Form nach ist es ein Bericht, was er uns am Ende erteilt: »Ich habe mir angelegen sein lassen, genaue Nachrichten aus dem Munde derer zu sammeln, die von seiner Geschichte wohl unterrichtet sein konnten; [...].« [2] An einigen Stellen scheint der Erzähler aber die Grenzen seines Wissen und seiner Perspektive zu überschreiten, z.B. als er die Stimmungsveränderungen in Lottes Gemüt auseinandersetzt. Das kann er natürlich unter Umständen später von ihr erfahren haben. Aber es grenzt doch schon sehr an Introspektion, vor allem, da es sich teilweise um sehr intime und subtile Gedankengänge handelt, die hier nachverfolgt werden. [3] Bei dem, was in Werther selbst vor sich ging, muss es sich dann schon um Spekulation handeln (entweder des »Herausgebers« oder derer, auf die er sich beruft). Ganz unerklärlich ist, wie er den Wortlaut von Selbstgesprächen in Kenntnis gebracht haben will, die Werther auf einsamen Spaziergängen führte – hatte er etwa ein Tonband in der Tasche? [4]
In der letzten Sendung des »Literarischen Quartetts«, die damit nach 13 Jahren eingestellt wurde, wurden von Reich-Ranicki, Karasek und Co. als allerletztes Buch »Die Leiden des jungen Werther« besprochen. Man kann sagen: in mehrfacher Hinsicht ein sentimentaler Höhepunkt. Einer der Kritiker der alten Garde konstatierte, dass »junge Leute sich nicht für literarische Liebesgeschichten interessieren«. Ich sage: die jungen Leute wissen das besser! Aber das nur am Rande. Worauf ich mich eigentlich beziehen möchte, ist, dass einer der Gäste die Ansicht vertrat, Goethes Roman sei bahnbrechend, weil hier ein Mann einem anderen sein Herz ergießt. Mag alles sein. Aber warum verwundert das eigentlich niemanden? Diese Intimität, die zwischen Werther und Wilhelm herrscht, diese Offenheit, mit der sich der eine bei dem anderen ausspricht – das ist doch seltsam. Aber eigentlich ist es auch ein Irrtum. Einerseits handelt es sich zwar bei den »Leiden des jungen Werther« der Form nach um einen Briefroman – später tritt noch ein Erzähler hinzu (der »Herausgeber«). Anderseits hat es wiederum ganz und gar nichts mit einem Briefroman zu tun: durch die Reduktion auf die Briefe von Werther und das Fehlen der Antworten von Wilhelm, durch das Weglassen von Anrede und Abschluss, durch den Wechsel von kurzen und extrem langen Erzählungen, durch die stilistischen Schwankungen (immer wieder wechseln Berichte und Reflektionen einander ab) gewinnt das ganze eher den Charakter eines Tagebuches. Man muss wiederum das Genie und den Witz des Autors hinter dieser Methode entdecken: Er vereinigt hier die Vorteile von zwei unterschiedlichen Gattungen. Der Roman hat die Intimität und Unmittelbarkeit eines Tagesbuches und doch ist nichts Indiskretes dabei, ihn zu lesen, da es dem Leser durch die persönliche, suggestive Art der Anrede leicht gemacht wird, in die Rolle von Wilhelm zu schlüpfen und sich selbst als Freund und Vertrauten Werthers zu empfinden. Das ist auch der Grund, warum wir über Wilhelm so gut wie nichts erfahren, warum Goethe ihn ganz bewusst im Schatten gelassen hat, während bei einem realistischen Briefwechsel zu erwarten wäre, dass auch das Leben von Wilhelm zum Gegenstand von Werthers Antworten wird, zumal sie befreundet sind. Aber Werthers Briefe sind ganz einseitig: in ihnen geht es ausschließlich um sein eigenes Leben. Werther schreibt über Werther. Wilhelm ist erzähltechnisch vollkommen irrelevant. Wenn man sich aber daran klammert, dass es ein Briefroman ist, dann kann man das allerdings bekritteln. Dann muss man sich doch schon etwas darüber verwundern, wie viel Werther seinem Freund anvertraut und zumutet, obwohl er weiß, dass er es teilweise nicht billigt. Denn aus Werthers Briefen geht hervor, dass Wilhelm um einiges besonnener und bürgerlich-pragmatischer sein muss, als er selbst. Auch müsste man sich darüber wundern, wie träge Werthers Freund reagiert, zeichnen sich der Hang zum Suizid und die Verschlimmerung von Werthers Zustand doch frühzeitig ab.
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[1] Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 19 (Brief vom 16. Junius 1771)
[2] Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 92
[3] Vgl. Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 106-107 und 118-121
[4] Vgl. Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 94